Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan

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Stacheldraht hing, konnte ihnen nur zuschauen.
    »Jetzt sind sie es, die in unseren Eingeweiden lesen, nicht wahr? Sie picken darin herum, auf der Suche nach den zartesten Happen. Ob das wohl die richtige Farbe hat? Ist das nicht ein leckeres Stück Leber? Ach, das ist aber ein saftiger Fettbrocken da an seinem Arm, und du verpisst dich, das gehört mir, hörst du, gib dich mit deinem Fetzen Blase zufrieden. Und dort drüben hüpfen noch ein paar Vögel herbei und zupfen an dem armen Schweinehund ... ach, Herrgott ... an einem scheißverkohlten Stück Fleisch! Herrgott, er war nur noch ein verdammter Klumpen —«
    Er sitzt wieder auf dem Stuhl, den Kopf in die Hände gestützt. Reynard steht hinter ihm und hat ihm die Hände auf die Schultern gelegt.
    »Es ist gar nicht so schwer, die Zukunft vorauszusehen. Man muss nur in ein Feuer schauen.«
    Seamus ist nicht stolz darauf, aber er verfügt tatsächlich über seherische Gaben — über denselben Weitblick, der die Menschen einst dazu brachte, Ochsen vor den Pflug zu spannen, dem sie Medikamente und Zahlen verdanken und das ganze jämmerliche Schauspiel der Geschichte, der Industrie, von Hammer und Sense.
    »Es ist gar nicht so schwer, die Zukunft vorauszusehen, Doktor«, sagt er. »Aber sie zu verändern — das ist schwierig.«


    Engel mit schmutzigen Händen

    Er öffnet die Augen.
    Im Schlachthof ist es still. Nur ein paar Kadaver baumeln an den Ketten, und hin und wieder fährt ein Windhauch raschelnd durch die Plastikstreifen am Eingang, wo Henderson steht und hinausschaut. Finnan prüft die Drähte um seine Handgelenke und spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzieht. Mist. Seit MacChuill und Henderson ihn in der Kirche aufgespürt haben, kann er sich an nichts mehr erinnern, nur an ... unzusammenhängende Bilder. Die Somme. Inchgillan. Der Blutige Freitag. Sein Kopf fühlt sich an wie ein durchwühltes Büro mit aufgerissenen Aktenschränken und überall verstreuten Akten und Mappen.
    Er versucht, sich darüber klar zu werden, wo er ist und wie lange er schon hier ist, aber sie haben ihn so gründlich außer Gefecht gesetzt, dass es auch einige Tage gewesen sein können. Sie können ihn überallhin gebracht haben – auch wenn er vermutet, dass er sich noch irgendwo in den Staaten befindet. Der Rest der Welt ist inzwischen ein wenig zu instabil, mit der Apokalypse und alledem. Wahrscheinlich ein verdammter Schlachthof, der der Mafia gehört, vermutet er, irgendwo in der Pampa. Bei einer solchen Operation bedienen sich die Engel gerne ihrer ... weitverzweigten Niederlassungen; sie mögen es nicht, wenn dergleichen Schweinereien direkt vor ihrer eigenen Tür passieren.
    Operation. Sein Blick fällt auf den Fleischerhaken in seiner Brust und ihm wird übel. Wenn er ein Mensch wäre, wäre er längst tot. Aber dann wäre er vermutlich schon vor hundert Jahren auf den Schlachtfeldern in Frankreich gestorben. Zusammen mit all den anderen. Aber nein, das Schicksal hat Seamus Padraig Finnan in diesem Spiel eine größere Rolle zugedacht. Er wurde ... befördert.

    Nach Inchgillan hat er Jahrzehnte gebraucht, um richtig zu begreifen, was an jenem Tag mit ihm geschehen war, was ihn da berührt und verändert hatte; und manches davon hält er noch immer tief im mit Leichen übersäten Schlamm seiner Albträume verborgen. Jahrzehntelang hat er in den Spiegel gestarrt, ohne irgendwelche Anzeichen eines Alterns zu erkennen, jahrzehntelang hat er in Schatten und Spiegelbildern Dinge wahrgenommen, im Wind ein Flüstern gehört und in seiner eigenen Stimme ein Donnern – Jahrzehnte, bevor er in der Lage war, sich wirklich einmal in Ruhe zu betrachten, die Hand zu heben und das seltsame dunkle Zeichen zu begutachten, das auf seiner Handfläche Gestalt annahm: Linien gingen hier und dort ineinander über wie bei einer LSD-Vision und bildeten eine Art Schrift, die irgendwie bewusst mit dem zusammenhing, was er bei seinen Anfällen plapperte, seiner Haut eingeschrieben, ihm anverwandelt, als er zwölf Stunden lang im Stacheldraht der Deutschen festhing, den Blick auf das Schlachtfeld gerichtet, wo all die Jungs seines Zugs und der Himmel weiß wie viele andere ihr Leben verloren, während die Kugeln nur so an ihm vorbeipfiffen. Was ihn da wohl gerettet hatte? Ein Schutzengel. Ein Segen. Ein Fluch. An jenem Tag hatte er die Ewigkeit berührt und die Ewigkeit ihn, und sie hatte ihn gezeichnet.
    Und das Wort ward Fleisch, und Seamus Padraig Finnan wurde