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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Dezember hier verloren?
    »Hast du das noch nicht gehört, Vinzenz — Zorn ist eine Krankheit, die mit Worten geheilt werden kann?«, sagt dieser Unteroffizier MacChuill.
    »Wenn die Worte«, sagt er, »zur rechten Zeit kommen, um die Seele zu trösten und nicht nur das Herz zu zerquetschen, das übervoll ist. Lasst nicht zu, dass euer Mitleid in Feindseligkeit umschlägt.«
    Er wendet sich wieder MacChuill zu, um ihm zu erklären, dass er nicht ›Vinzenz‹ heißt, sondern Seamus Finnan, doch da fliegt der Reiher über ihn hinweg. Was hat ein verdammter Reiher im Dezember hier verloren?
    Die Flügel des Vogels schlagen, und MacChuills Überzieher flattert im kalten Wind, und Seamus spürt, wie das alte, kalte Grauen ihn umfängt. MacChuill nimmt ihm die Flasche aus der Hand und schüttelt den Kopf.
     
    »Wenn gesunder Menschenverstand am besten ist, mag er auch noch so närrisch wirken«, sagt MacChuill, »dann bin ich wohl ein unverbesserlicher Narr.«
    Er schaut Seamus an, und in seinem Blick liegt weniger Abscheu als Verwirrung — ein junger Mann auf der Suche nach einem Helden. Er sieht nur die Realität, und, Herrgott noch mal, mit der Wahrheit allein kann er sich wohl nicht zufriedengeben? Die Wahrheit ist, und Seamus kennt sie: Der Blutige Freitag war der Tag der Entscheidung, und wenn es damals nicht passiert ist, dann wird es das nie, nicht hier in Schottland. Nein, nicht jetzt. Die Panzer sind aufgefahren, und die Revolution hat sich durch die Hintertür davongemacht.
    »Wenn hier jemand ein Narr ist, dann ich«, sagt er.
    Der verrückte Seamus Finnan mit seiner Angst vor Vögeln. Der verrückte Seamus Finnan mit seinen Geistern und dem nicht enden wollenden Strom von Wörtern, der ihm durch den Kopf fließt wie der Fluss dort unten, wie der kalte Wind, der sich nicht legen will.
    »Ich hab schon verstanden«, sagt MacChuill verächtlich. »Geh nach Hause, hock dich auf deinen Arsch und rühr keinen Finger. Vielen Dank, Vinzenz, das war sehr lehrreich.«
    ›Vinzenz‹? Woher kennt er den Namen? Vinzenz. Vier Sensen. Viertel vor zwölf. Ihn schaudert. Herrgott, es ist so kalt — so kalt, dass er das Gefühl hat, seine Hände seien am Geländer festgefroren. Er schaut MacChuill hasserfüllt an. Hinter ihm lauert ein dunkler Schatten, ein anderer Soldat, der leise lächelt — kalt und grausam. Verdammt, geht das schon wieder los? Er bekommt keine Luft mehr. Der Wind heult ihm in den Ohren, und unter seinen Füßen erhebt der Fluss seine Stimmen.
    »Macht schon, verpisst euch«, schreit er laut und verzweifelt.
    Und versucht, nicht den Verstand zu verlieren.
    MacChuill weicht vor ihm zurück, einen Ausdruck des Entsetzens im Gesicht, in seinem einäugigen Gesicht mit dem schwarzen Loch. Auf seiner Schulter sitzt die Krähe und erkundet mit dem Schnabel die Tiefen seiner Augenhöhlen, pickt auf ihn ein und zerrt das Fleisch heraus, rote und weiße Fetzen, und sie sind von Kadavern umgeben wie auf einem verdammten Schlachthof, und Seamus spürt, wie Panik in ihm aufsteigt, über ihn hinwegbrandet.
    »Ihre Worte treffen auf offene Ohren.«
    Die Flügel des Vogels gleiten durch die laue Luft, Hufe klappern über Pflastersteine und deutsche Maschinengewehre knattern. Seamus taumelt von ihm fort, fällt auf die Knie.
    »Lasst mich in Ruhe!«
     
    Und MacChuill reißt die Hand zurück, löst seinen Geist von dem Gefangenen, schnappt ebenfalls nach Luft und stolpert, während er zurückweicht, stößt gegen einen der gefrorenen Kadaver, greift hinter sich, einerseits um zu vermeiden, dass er herunterfällt, andererseits, um selbst das Gleichgewicht wiederzufinden, um wieder Kontakt mit der Wirklichkeit aufzunehmen. Schön und gut, aber was ist ›wirklich‹?
    »Was machst du da?« Henderson steht hinter ihm.
    MacChuill schüttelt den Kopf, den Blick auf seine zitternden Finger gerichtet. Der Staub der Bitläuse kriecht ihm über die Hand und nimmt wieder ein stabiles Muster an, sinkt in seine Haut ein und verschwindet. Die augenblickliche Desorientierung geht vorüber, er dreht sich um und geht mit großen Schritten an Henderson vorbei, drängt sich zwischen den Kadavern hindurch, die hinter ihm hin und her schwingen.
    »MacChuill«, schnauzt ihm Henderson nach, »du hast deine Befehle. Komm sofort wieder hierher.«
    Aber MacChuill schiebt sich bereits durch den Plastikvorhang am Eingang, wischt ihn mit einer wütenden Handbewegung zur Seite, und er bleibt erst stehen, als er das verdammte Gebäude verlassen

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