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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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über eine Blumenwiese, die zu einer feindlichen Armee wird und das Gras zu Speeren in ihren Händen, die Spitzen himmelwärts gerichtet, und sie sammeln und ernten die Leichen, werfen sie sich über die Schultern wie die Bauern ihre Garben; zu Riesen geworden, marschieren sie weiter über die bestellten Felder, und überall ertönt ein Ächzen und Stöhnen, bis nach Asien und Arabien hinein herrscht Trauer, glaubt er jedenfalls, denn er blickt auf, und vor ihm steht diese dunkelhäutige Jungfrau, so süß und wunderschön, aber sie jammert und heult angesichts des ganzen Leids, als sie ihre Lasten abladen und sie wie Sandsäcke aufeinanderstapeln, Mauern errichten, ein ganzes Gebäude aus diesen klobigen Klumpen, und sie bauen höher und höher, in einem fort, sie errichten eine Stadt, eine Stadt aus klobigen Klumpen, irgendwo im Heiligen Land, eine befestigte Stadt, Himmel Herrgott, eine Zitadelle aus Kadavern.
     
    »Würden Sie von sich behaupten, dass Sie ein gläubiger Mensch sind?«, fragt Reynard.
    »Nein, das würde ich nicht«, sagt Seamus. »Nicht mehr. Nicht, seit ...«
    »Seit was?«
    Seamus zuckt mit den Schultern, versinkt in mürrischem Schweigen, was vielleicht den Eindruck erweckt, er sei stolz, er wolle sich rechtfertigen. Dabei sind es seine eigenen Gedanken, die an seinem Herzen nagen. Glaubt er tief im Innern weiterhin an einen Gott, dem er die Schuld für alles gibt, was ihm widerfahren ist? Klar doch — wer sonst hat den Jungs ihre Befehle erteilt?
    »Können wir über etwas anderes sprechen?«, fragt er. »Das alles habe ich Ihnen schon einmal erzählt. Sie wissen über das ganze Leid Bescheid und darüber, wie ich versucht habe, ihnen ein wenig Vernunft einzubläuen — können wir jetzt über etwas anderes sprechen?«
     
     
    Revolutionen
     
    »Es ist ... es ist interessant, dass es Sie in Ihrem Traum in das Heilige Land verschlägt; dass Sie eine Stadt für eine Jungfrau bauen — für die Jungfrau vielleicht?«
    »Nun, Doktor, es ist schon eine Weile her, müssen Sie wissen. Da ist es wohl kaum verwunderlich, wenn ich von einem hübschen Mädchen träume.«
    Seamus’ Blick schweift zum Fenster hinüber, über das Braun und Grün des Moors hinweg, über die grauen Felsen, die graue See, den grauen Himmel. Diese Landschaft wirkt immer auf dieselbe Art und Weise trist und unwirklich, von Winter keine Spur. Er bezweifelt sogar, dass hier im Frühling Blumen blühen; Bäume, die im Sommer Früchte tragen könnten, gibt es jedenfalls nicht.
    »Aber eine Stadt aus Leichen«, sagt Reynard. »Wofür mag das stehen? Für die Kirche? Für Religion im Allgemeinen? Nein. Nein, ich glaube, das wäre zu einfach. Für die Gesellschaft, vielleicht.«
    »Klar, schließlich halte ich nicht viel von der sogenannten besseren Gesellschaft. Von Ihren —«
    »Fürsten und Herzögen, ich weiß. Ja, ja. Aber das habe ich nicht gemeint. Ich meine die Gesellschaft als Ganzes. Die Zivilisation. Die Sensen der Arbeiter. Asien und Arabien — kennen Sie den Begriff ›fruchtbarer Halbmond‹? Da hat alles mit Landwirtschaft angefangen, müssen Sie wissen, mit der neolithischen Revolution, das ist die Wiege der Zivilisation. Und alles läuft auf eine Stadt hinaus, die aus Leichen errichtet wurde. In Ihren Träumen jedenfalls. Wirklich interessant.«
    Klar doch, und die Jahreszeiten werden hier vom Himmel bestimmt, denkt Seamus. Er blickt noch immer auf das Moor hinaus und fühlt sich an das Meer erinnert, wo man auch nur sehen kann, wie dieser oder jener Stern auf- und untergeht, die kreisenden Konstellationen, die die Mondmonate markieren und die Tagundnachtgleichen während all der Äonen, für die Seeleute, die auf ihren Schiffen mit Segeln wie Flachsflügel über die Ozeane gleiten. Und der Himmel dreht sich über ihnen im Kreis.
    »Von der Wiege bis zur Bahre, was?«, sagt Seamus und wendet sich wieder dem Arzt zu.
     
    »Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie sich große Hoffnungen für die Menschheit machen, für den Fortschritt«, sagt Reynard.
    »Menschheit? Fortschritt? Glauben Sie mir — ich habe nichts gegen diejenigen, die die eigentliche Arbeit tun. Ohne Maurer und Tischler würden wir immer noch in dunklen Höhlen leben, wie Ameisen in der Erde vergraben. Oder wie steht es um die Landwirtschaft? Ich möchte wetten, dass ich Ihnen sagen kann, wer ein Paar wilder Tiere zum ersten Mal ins Joch gespannt hat, damit sie den Menschen etwas von der schweißtreibenden Arbeit abnehmen. Oder wer den Pferden

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