Vellum: Roman (German Edition)
Gewässer des Kelvin zu jagen.
Himmel Herrgott, nein, denkt Seamus. Wir müssen uns doch nur einen verdammten Atlas anschauen, und was können wir da anderes tun, als weinen angesichts der Brüder, die in fernen Ländern jenseits des Horizonts ausharren müssen und schwere Lasten auf ihren Schultern tragen, diese armen verfluchten Säulen des Imperiums? Seht euch doch die hingemetzelten Armenier in ihren Gräbern an! Habt Mitleid mit dem grausamen Ungeheuer, das hundert Schädel indischer Sklaven als Kette um den Hals trägt — Kalis Augen blitzen wie die eines Drachen, ihr entsetzlicher Schlund stößt fauchend die Wahrheit über all das Blutvergießen aus, aber was hilft das? Wir leben im Zeitalter der Göttin des Chaos und des Todes, der stürmischen Tochter von Amritsar.
Herrgott, denkt Seamus, und ihr wollt euch gegen die Fürsten stellen — ihr glaubt, ihr könntet die Herrschaft der Herzöge beenden? Mal sehen ...
Eine Revolution im Irak? Nun, die Herzöge schicken sofort ihre Luftwaffe los, Donner dröhnt herab und es regnet Feuer vom Himmel — das wird den Rebellen ihre hehren Hoffnungen schon austreiben. Das Herz reißen sie dir aus der Brust, sie rauben dir jegliche Kraft, bis du nur noch eine ausgebrannte Hülle bist.
Und wie läuft es mit der Revolution in Italien, nachdem jetzt Mussolini an der Macht ist? Ein aufgedunsener Kadaver ist daraus geworden, unter dem Scheißhaufen des Faschismus begraben, während die Industrie auf die Massen einhämmert, die in größter Not sind. Aber bei Gott, eines Tages wird denen dort auch alles um die Ohren fliegen — und nicht nur der Ätna wird Linguaglossa bedrohlich angrollen. Nein, nicht nur werden Siziliens fruchtbare Gärten und blühende Felder dem fauchenden Rachen ausgesetzt sein, sondern Flüsse aus Feuer werden hervorbrechen und alles verschlingen. Solange nur ein Rebell am Leben ist, wird der Zorn unterirdisch weiterbrodeln, zu einem verdammten Sturm anschwellen, den niemand besänftigen kann, zu einem Toben, das sich erhebt und emporschäumt, immer höher. Die Blitze der Herzöge mögen ihn zu Asche verbrennen; aber eines Tages wird eine gigantische Schmiede Feuerstürme entfesseln. So wird es sein — aber heute, denkt Seamus, was bleibt ihnen heute? Ein Unheiliges Römisches faschistisches Reich.
Seamus wird sich bewusst, dass seine Hände das kalte Eisen des Brückengeländers so fest umklammert halten, dass seine Knöchel weiß sind. Ach Himmel Herrgott Maria und Joseph. Wo soll das alles enden. Wo fangen sie an?
Nichts ändert sich
Er versucht ihnen klarzumachen, dass sie nichts tun können. Geht nach Hause. Es ist vorbei.
»Dürfen wir nicht einmal mehr fragen?«, sagt MacChuill. »Warum sollen wir es nicht versuchen? Erklären Sie uns das.«
»Sinnloses Leid und hohlköpfige Torheit«, sagt Seamus. Er ist sich nur allzu bewusst, wie verbittert das klingt. »Jedenfalls«, fährt er fort, »ganz ohne Lebenserfahrung seid ihr ja auch nicht. Ich muss euch doch nicht sagen, was ihr tun sollt.«
Rettet euch, denkt er, wenn ihr wisst, wie. Und ich — ich werde meinen augenblicklichen Zustand ertragen, bis sich die Gedanken der Herzöge vom Hass abwenden, denn was kann ein Einzelner schon gegen das gesamte Establishment ausrichten, gegen eine Welt, die von den Reichen und Mächtigen regiert wird, gegen diese neuen Herren, die allmächtig auf ihrem Thron regieren? Jesus Maria, genauso gut könnte ich gegen den Scheißhimmel selbst antreten, gegen Gott und all seine Scheißengel, die plötzlich die Seiten gewechselt haben und das Schlimmste in uns zum Vorschein bringen. Welcher verdammte Idiot ließe sich darauf ein?
Nun, er natürlich, er und seine verdammte Schnauze, die er nicht halten kann.
»Und was bringt das ganze Gerede überhaupt?«, fragt er. »Passt lieber auf, dass sich ihr Zorn nicht gegen euch richtet.«
Er zieht an seiner Zigarette, greift nach der Flasche Bells Whiskey, die MacChuill ihm reicht, und nimmt einen Schluck. Klar haben die Jungs das Herz auf dem richtigen Fleck, und Seamus hat nicht das Recht, seine Wut an ihnen auszulassen. Aber er hat es satt, anderer Leute Schlachten zu schlagen. Herrgott, ist es im Dezember kalt in Glasgow. Immerhin, der Whiskey wärmt ihm die Brust. Drunten, an einer seichten Stelle des Kelvin, stakst der Reiher herum, fängt einen Fisch und schluckt ihn hinunter. Mit elegantem Schwung erhebt er sich, und Seamus beobachtet ihn gebannt. Was zum Teufel hat ein Reiher im
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