Vellum: Roman (German Edition)
leeren Stuhl fest, ob sie sich nun in Bankettsälen, Zelten oder Vorstandsetagen trafen. Und Metatron saß stets unten am Tisch, als Niederster unter den Niederen, obwohl – oder vielleicht gerade weil – der Plan letztlich von ihm stammte – es war seine Vision gewesen, seine Stimme. Keiner von ihnen, und schon gar nicht Metatron, hatte jemals in Betracht gezogen, dass der Tisch nur ein Rechteck war wie jedes andere Rechteck auch, mit vier Seiten, zwei langen und zwei kurzen, und die Zuordnung von ›oben‹ und ›unten‹ völlig willkürlich. Eigentlich war ›oben am Tisch‹ nicht der Platz, den sie aus äußerst fadenscheinigen Gründen als solchen bezeichneten, sondern derjenige, auf dem der Mächtigste saß, sich vorbeugte und mit ruhiger, fester Stimme sagte: ›Folgendes ist zu tun.‹ Nein. Der leere Platz ist zu wichtig, für den Konvent zu sehr von grundlegender Bedeutung, als dass Metatron sich Gedanken darüber machen könnte, wie leer er wirklich war.
Und jetzt ist weiter oben am Tisch, gegenüber von Uriel und neben Michael, ein weiterer Platz frei.
»Du trifft hinter unserem Rücken Abmachungen«, sagt Gabriel. »Du gestehst irgendeiner miesen kleinen Wüstenratte völlige Immunität zu, nachdem sich Eresch mit ihr –«
»Sie war nicht weiter von Bedeutung«, sagt Metatron. »Sie war ein Nichts.«
Michael schnaubt verächtlich. Offenbar ist er mit Gabriel ganz einer Meinung. Uriel ist eher der militärische Typ, mehr ein Taktiker, als einer, der Städte in Schutt und Asche legt. Aber er steht trotzdem auf der Seite der Falken. Sandalphon ist die einzige Taube unter ihnen, er wird immer zu Metatron halten; er würde das Mädchen allein schon aus Mitleid laufen lassen. Azazel? Wer wusste das schon.
»Du verschwendest zwei gute Agenten«, fährt Gabriel fort, »nur damit diese kleine Schlampe aus dem Gefängnis frei –«
»Ich hatte die beiden beauftragt, sich um Eresch zu kümmern ...«
»Ganz zu schweigen davon, dass du vorher Hackfleisch aus ihnen gemacht hast.«
»Es war wichtig, dass sie glaubte ... hört zu – sie waren von Anfang an labil.«
»Sie gehörten dem Konvent an«, sagt Michael. »Das waren unsere Leute. Unsere Jungs.«
Uriel nickt grimmig. Azazel dagegen verdreht die Augen – scheint der Angelegenheit bereits überdrüssig.
»Und jetzt?«, sagt Gabriel. »Was auch immer Eresch da unter Verschluss gehalten hat, es ist jetzt dort draußen und setzt unsere gesegneten Bitläuse gegen uns ein.«
»Das wissen wir nicht«, sagt Sandalphon. »Dahinter hätte auch Malik stecken können. Wir wissen nicht mit Bestimmtheit –«
»Dann wird es allmählich Zeit«, sagt Gabriel.
Er schiebt den Stuhl nach hinten und steht auf, geht mit großen Schritten um den Tisch herum und stützt sich auf die Lehne von Raphaels leerem Stuhl.
»Ich arbeite noch daran«, sagt Metatron. »Ich brauche nur etwas Zeit. Ich habe einen Informanten –«
Gabriel fährt herum und schleudert den Stuhl gegen die Wand. Ein Gemälde fällt herab, der Glasrahmen zerbricht, Scherben überall. Gabriel schiebt den leeren Stuhl am Kopfende des Tisches beiseite, legt die Hände flach auf das Holz und starrt Metatron direkt in die Augen – eine Herausforderung. Um seine Augen zeichnen sich Falten ab; die letzten paar Jahrhunderte waren schwer für ihn. Ihm war es von Geburt an bestimmt, hell zu leuchten, und sie verstecken sich jetzt schon allzu lange in den Schatten. Sogar Metatron kann nachempfinden, wie ... fremd sich ein solcher Engel im Zeitalter der Wissenschaften und der Technik fühlen muss. Es gab einmal eine Zeit, da standen die Sterne für Cherubim, für Ehrfurcht und Würde. Aus ihren Mündern fuhren Flammenschwerter, ihre Unkinzungen peitschten über die Wirklichkeit, brachten Vernichtung über die Feinde des Konvents. Da gab es keine geschminkten Schauspieler auf einem bunten Bildschirm.
»Es reicht«, sagt Gabriel.
Er richtet sich auf, dreht sich dann um und zieht den Stuhl zu sich heran.
»Nein, Gabriel«, sagt Metatron. »Das widerspricht allem, was wir ... damit wärst du nur ein weiterer Auserwählter.«
»Waren wir nicht alle einmal auserwählt, Könige der Welt? Wie Baal?«
»Wie sollen wir dich denn jetzt anreden?«, fragt Azazel, Verachtung in der Stimme. »Prinz Gabriel? Fürst Gabriel? König?«
Gabriel starrt ihn lange an und setzt sich schließlich. Ans obere Ende des Tisches. Der Feuerengel auf dem Thron Gottes.
»Nicht ›König‹«, sagt er. »Und nicht nur
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