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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Blinder, der Brailleschrift liest. Seine Finger tasten ein Herz aus Damaszener Stahl nach dem filigranen Muster der Unkinsprache ab, während Pechorin ihn festhält.
    »Wo ist der kleine Messenger?«, sagt er und findet prompt die Antwort. Aufrichtig erschrocken schaut er Finnan an.
    Der Einschlag der Granate bringt ihn einen Moment lang aus dem Gleichgewicht, und er muss sich an der Wand des Unterstandes abstützen. Ein Zinnbecher fällt hinunter und rollt klappernd über den Boden.
    »Es ist mir gleichgültig, was Sie sagen, Feldwebel. Die Entscheidung ist getroffen. Abtreten!«
    Feldwebel Finnan nimmt Haltung an, grüßt mit einem Ausdruck grenzenlosen Hasses und stolziert hinaus. Pickering steht von dem Barackenbett auf, ein gemeines Lächeln im Gesicht.
    »Tims, was?«
    »Halt die Klappe«, sagt Carter. »Dir macht das wohl Spaß?«
    »Komm schon, Jack. Der Kerl ist ein Feigling und ein Deserteur. Und außerdem noch ein Urning.«
    »Was hast du gesagt?«
    Wutentbrannt spuckt er die Worte aus.
    »Ich habe gesagt, dass er eine verdammte Schwuchtel ist«, erwidert Joey. »Komm schon, Mann. Du hast doch gesehen, wie er dich angeschaut hat. Haben wir uns eben ein wenig mit ihm vergnügt. Der wird schon wieder.«
     
    »Halte den Wagen an«, sagt Carter und beugt sich vornüber.
    »Was zum Teufel ist los mit dir?«
    Er fährt an die Bordsteinkante. Carter tastet nach dem Türgriff, stößt die Tür auf, fällt auf den Gehsteig hinaus und erbricht sich vor den Füßen eines angewiderten Passanten. Carter blickt auf, einem Jungen direkt ins Gesicht – ein Gesicht, das er wiederzuerkennen vermeint. Hastig weicht er vor ihm zurück.
    »Herrgott, Jack, hast du irgendwas genommen?«
    Joey beugt sich über ihn und schiebt mit dem Daumen ein Augenlid nach oben, um seine Pupille zu betrachten. Jack packt ihn am Jackenkragen, und als er die Hand öffnet, fällt ein silbernes Zippo auf den Asphalt. Er hat keine Ahnung, woher es kommt, aber er greift danach, als wäre es das Kostbarste, was er je besessen hat.
    »Was haben wir getan?«, sagt Jack. »Was haben wir getan?«
    »Nichts. Verdammte Scheiße, Jack, auf was bist du? Was hast du genommen?«
    Jack stößt ihn weg und rappelt sich auf. Sie haben vor einem verlassenen Ladengeschäft gehalten, das Fenster ist eingeschlagen und mit Brettern vernagelt. Es sieht aus, als stehe es schon seit einer Ewigkeit leer. Unter der mit einem Vorhängeschloss gesicherten Tür, die mit einem seltsamen Graffito besprüht ist, sickern Schatten hervor. Das Graffito sieht aus wie ein Auge des Horus. Oder auch nicht.
    »Wo sind wir hier?«
    »In der College Street, Jack. Schau dir doch die verdammten Schilder an.«
    Aber Jack ist viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen, er mustert die Tür, das Feuerzeug in seiner Hand, das Erbrochene auf dem Gehsteig, die Passanten, die ihn anstarren, als käme er aus dem Weltraum, das – ach ja – Straßenschild hoch oben an der Mauer über der Bar an der Ecke, auf dem ›College Street‹ steht, die Schatten, die unter der Tür hervorsickern und den Rissen im Gehsteig folgen, die tief stehende Sonne, die im Westen zwischen den Streifenwolken schimmert, gelb und goldfarben und rot und orange wie Feuer. Er geht darauf zu, streift Joeys Hand mit einer raschen Drehung seiner Schulter ab, er geht auf den Sonnenuntergang zu, ohne die geringste Ahnung zu haben, was er da tut und warum.
    »Wo zum Teufel willst du hin, Jack?«
    Er kommt an einem Fernsehgeschäft vorbei und nimmt aus den Augenwinkeln die Flammen auf den Bildschirmen wahr, die am unteren Rand entlanglaufenden Schlagzeilen, die von einer Katastrophe in Damaskus berichten. Zahllose Tote.
    »Wo zum Teufel willst du hin?«
    Er weiß es nicht.
     
    »Das wusste ich nicht«, sagt Metatron.
    Er sitzt am unteren Ende des Tisches, ein Brauch, der Jahrtausende alt ist. Beim ersten Mal trafen sie sich im Bankettsaal irgendeines Kriegsherrn. Alle sieben saßen sie damals um den Tisch, drei an der einen Seite, drei an der anderen und Metatron am unteren Ende, wie stets der demütige Diener, der Schreiber und Wesir seines Herrn. Zu dem leeren Sitzplatz des Größenwahnsinnigen, den sie stürzen wollten, musste er aufblicken. Der treffliche Symbolismus des leeren Throns schlug ihn in seinen Bann, während er die anderen davon überzeugte, dass sie es nicht nur tun konnten, sondern auch tun mussten. Es war richtig. Seit dem Tag, an dem sie sich den Konvent in die Seele gemeißelt hatten, hielten sie an dem

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