Vellum: Roman (German Edition)
diesem Ort verbringen, desto mehr setzt er uns zu. Überall um uns herum liegen Häute auf dem Boden, die an die fein gemusterten Teppiche in einem Beduinenzelt erinnern — und es scheint, als hätten wir die Atmosphäre aus den inneren Höhlen mit uns gebracht, die Grenze zwischen der Welt der Alten und unserer eigenen aufgehoben. Die Höhle ist gleichermaßen Mutterleib und Grabmal, die dunkle Erde, aus der wir geboren werden und zu der wir zwangsläufig zurückkehren, im Tod, in unseren Träumen. Sie gleicht den Gemächern unseres Gehirns, die von den Feuern unserer himmelsstürmenden Ideen erleuchtet werden.
Agieren wir deshalb so planlos?, frage ich mich. Wir katalogisieren die Häute nicht mehr eine nach der anderen, sondern verhalten uns eher wie zerstreute Gelehrte, die ziellos in ihrer eigenen Bibliothek stöbern. Hobbsbaum schreitet zwischen ihnen auf und ab, von dieser zur nächsten, vergleicht dieses Symbol mit jenem, mit den Zeichen auf den Höhlenwänden, spricht aufgeregt mit sich selbst, ja, ja, natürlich. Und Pechorin wird mir mit jedem Tag unheimlicher. Einmal habe ich sogar mitbekommen, wie er einem seiner Leute zuflüsterte: Das ist die Geschichte unseres Volkes. Sie gehört Russland. Der Ossete blinzelte nur und schaute ihn verständnislos an. Er möchte weg von hier. Jetzt, sofort. Immer wieder poliert er sein Bajonett und ich sehe ihm an, dass er darüber nachdenkt, wie er von hier verschwinden kann. Hobbsbaum ist so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er nichts davon bemerkt. Ich muss doppelt wachsam sein.
Wut und Wahn
22. September 1942. Ich habe Carter und Pechorin dabei ertappt, wie sie in einem kaukasischen Singsangdialekt, den sie beide fließend sprechen, Pläne geschmiedet haben. Für einen Moment hielt mich etwas davon ab, ihnen einfach zu befehlen, damit aufzuhören. Lag es allein an der Schönheit der Worte, die mich veranlassten, innezuhalten und ihnen zuzuhören? Als ich sie schließlich zur Rede stellte, beharrten sie darauf, dass ihre Unterhaltung nicht weiter von Belang gewesen sei, und einen Augenblick lang glaubte ich ihnen, als sei jedes Wort für sich genommen die reine Wahrheit, die Beschreibung von etwas, das sich bereits ereignet hat. Meine Zweifel und mein Argwohn waren vergessen.
Zum Teufel mit ihnen! Sie haben mich ebenso hypnotisiert, wie sie die Männer hypnotisiert und gegen mich aufgewiegelt haben. Eicher ist heute sogar zu mir gekommen, um ›stellvertretend den Ängsten der Männer Ausdruck zu verleihen‹. Ich schimpfte ihn einen Feigling und Verräter. Er senkte den Kopf, murmelte jedoch etwas vor sich hin, als könnte ich es nicht hören. Carter wandte sich an mich, als wären wir allein, und sagte: ›Noch haben sie nicht den Mut, leise miteinander zu flüstern, aber das kommt noch.‹ Als er das sagte, hätte ich sie alle umbringen können.
23. September 1942, 2 Uhr morgens.
»Sie haben schon einmal gesagt, dass Worte gefährlich sind. Warum haben Sie Angst vor ihnen? Warum wachen Sie nachts schreiend auf?«
»Das wissen Sie bereits. Sie haben die Leichen gesehen, von denen ich träume.«
»Sie wollten fort von hier. Sie meuterten und versuchten, die Häute an den Meistbietenden zu verkaufen. Sie hatten den Tod verdient. Was ist daran so ungewöhnlich?«
»So lautet Pechorins Geschichte, nicht meine. Ich behaupte, dass sie sich gegenseitig umgebracht haben.«
»Warum sollten sie das tun? Warum?«
[unverständlich]
»Was haben Sie gesagt?«
[Carter lacht]
»Was haben Sie gesagt?«
»Wissen Sie, ich bin mir nicht ganz sicher, dass ich das übersetzen kann, aber eins sage ich Ihnen: Ich habe es in einer Sprache gesagt, die älter ist als Granit und noch härter als dieser, eine Sprache, die in einem nachhallt wie ein Akkord, die sich einem in Kopf und Herz schleicht, ins Blut und in die Eingeweide, um seine Bedeutung bis in die Seele zu tragen.«
»Was haben Sie gesagt? Ich konnte es nicht verstehen. Was für ein Wort war das?«
»Sie wollen es wirklich wissen. Ich werde es Ihnen ins Ohr flüstern, Herr Strang.«
»Was haben Ihnen die Häute verraten. Was haben Sie da gefunden? Was für ein Wort war das?«
»Wir sind auf eine vollständige Lautschrift gestoßen, die so präzise, so perfekt ist, dass man sie lesen kann und die Worte hört, wie sie wohl vor fünfzehntausend Jahren gesprochen worden sind — die Kongruenz und Dissonanz in der Aussprache, jede Harmonie und Disharmonie bei der Betonung und der Satzmelodie.
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