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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Die Anrufe und Ausrufe, jedes Flehen und jede Drohung, den Hass und das Grauen. Wie steht es mit Ihnen, Pechorin, alter Knabe? Erinnern Sie sich nicht mehr daran?«
    »Das reicht jetzt.«
    »Sie sprechen diese Sprache. Sie beide. Sie werden sie mir beibringen.«
    »Das kann ich nicht zulassen, alter Freund.«
     
    »Carter. Es reicht. Das ist nicht nötig. Herr Strang, Sie sollten Ihre Männer zusammenrufen und uns hier zurücklassen. Hören Sie auf meinen Rat.«
    »Wie können Sie es wagen —«
    »Nötig? Nicht nötig, Pechorin? Sie wissen es besser. Sie haben uns hierher geführt. Auch Sie können es seiner Stimme anhören. Sie können nicht anders. Seit zwanzig Jahren hören Sie die Sehnsucht in den Stimmen aller anderen Menschen — alles, was sie empfinden, sogar das, was sie vor sich selbst verbergen. Seit zwanzig Jahren haben Sie sich alles notiert, irgendwo in Ihrem Hinterkopf, und es immer wieder gelesen. Und Sie haben gespürt, wie es sich Ihrer Seele eingeschrieben hat.«
    »Es gibt keine Seele, Engländer. Nur den Willen. Das wissen Sie ebenso gut wie ich.«
    »Den Willen zur Macht. Ja. Die Gewalt von Wut und Wahn. Das ist das Wesen dieser Sprache, nicht wahr? Damit haben Sie meine Männer gegen mich aufgebracht. Sie beide. Sie arbeiten zusammen. Schon die ganze Zeit.«
    »Sie sind ein verdammter Narr, Strang.«
    »Sie werden mir diese Sprache beibringen. Das müssen Sie.«
    »Hören Sie, Strang. Hören Sie doch nur, in welchem Ton Sie reden — der Druck, die Anspannung, die Belastung! Sie haben keine Willenskraft. Sie drohen, Sie flehen, Sie jammern. Sie könnten diese Sprache nicht einmal dann sprechen, wenn Sie es versuchten.«
     
     
    Eine kalte, zwingende Logik
     
    12. April 1921. Heute hat Pechorin die beiden britischen Soldaten erschossen, unbarmherzig und ohne Vorwarnung. Sie hatten lediglich zu bedenken gegeben, dass die Vorräte zur Neige gingen und ergänzt werden müssten. Er behauptete, sie hätten damit seine Autorität infrage gestellt. Und seltsamerweise habe ich ihm zugestimmt, als er das sagte. Ich wusste genau, was er meinte, ganz genau. Ich empfand denselben kalten Stich des Hasses und der Verachtung und hätte sie selbst töten mögen. Vielleicht lag es nur daran, dass ich wusste, dass sie Deserteure waren. Ich sollte nicht zulassen, dass meine Geringschätzung für solche Menschen mein Urteilsvermögen beeinträchtigt. Allmählich wird mir klar, wie schwierig es ist, einen solch undisziplinierten Haufen unter meinem Kommando zu haben; Proleten mit Gewehren, alle miteinander. Wie lange dauert es noch, bis sie alle zu den Bolschewiken überlaufen?
     
    13. April 1921. Die Übersetzung macht erstaunliche Fortschritte. Am Anfang sind wir von der Prämisse ausgegangen, dass die Kreise gerundete Lippen darstellen, und haben dann vergleichbare Ideen auf häufig vorkommende Zeichen angewandt. Kurven bilden allem Anschein nach die Form der Zunge nach oder den Luftstrom über ihr. Der Scheitelpunkt der Kurve würde also den Artikulationsort definieren. Geraden und Wellenlinien repräsentieren möglicherweise stimmhafte und stimmlose Laute, vielleicht knarrende oder flüsternde Stimmen. Hobbsbaum ist sogar der Meinung, dass die relative Anordnung der Linien für die Stimmlage steht, die Tonlage. Für ihn sieht das alles aus wie die Notenblätter einer Wagneroper.
     
    Ein ›stimmloser‹ Laut, wie er als Begriff in der Phonetik verwendet wird, ist trotz seines Namens zu hören. Ein solcher Laut entsteht, wenn die Glottis weit geöffnet ist und nicht schwingt, sodass der Laut eben nicht summend und brummend klingt wie bei stimmhaften Lauten  – der /b/-Laut beispielsweise entsteht auf genau dieselbe Art wie der /p/-Laut, nur dass das /b/ stimmhaft ist und das /p/ dagegen stimmlos; ebenso verhält es sich mit /d/ und /t/, /g/ und /k/. Ich habe so manches über Phonetik gelernt, seit ich der Fährte meines Großvaters folge. Einige wenige Abschnitte der Übersetzung ergeben für mich inzwischen einen Sinn; ich kann sie in meinem Kopf hören. Die Schrift an sich, die Sprache an sich – sie hat sich in meinem Kopf festgesetzt. Ich weiß, was sie empfunden, was sie gedacht haben müssen, und ich bin froh, dass ich alleine unterwegs bin.
     
    Pechorin:
    Allmählich sieht Strang die Welt so wie Carter und ich. Die wenigen undeutlichen Worte, die Carter zu ihm gesagt hat, haben genügt, um ihn den Klang der unterdrückten Gefühle in den Stimmen erahnen zu lassen, ebenso wie Form und Wandel der

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