Vellum: Roman (German Edition)
Psychologie, die den Äußerungen zugrunde lag. Angst und Begehren. Ich glaube, dass Pechorin vorhat, ihn zu töten. Ich weiß, dass er dazu in der Lage ist, und es entbehrt nicht einer kalten, zwingenden Logik. Wir werden nicht von hier fortgehen, obwohl wir es könnten, ganz einfach, weil wir nicht wollen. In gewisser Hinsicht bilden wir drei die eine Seite einer Gleichung und die Soldaten die andere. Wir alle wissen, dass sie nur aus Angst bleiben, weil ihnen sonst der Tod droht. Die einzige Sprache, die diese Faschisten verstehen, ist die der Einschüchterung.
Vor zehn Sekunden hat sich Carter über meine Schulter gebeugt und gelesen, was ich geschrieben habe. Er sagte: ›Vielleicht sollten wir ihnen dann eine andere beibringen.‹
Der Stenograph
25. September 1942, 2:30 Uhr, Kur.
»Wahn. Ich konnte es spüren, als Sie das Wort ausgesprochen haben. Ich habe es gehört. Ich habe es gewusst.«
»Können Sie den Widerhall hören, hier, im Bauch?«
[Von draußen ist Lärm zu hören, das Verhör wird unterbrochen.]
»Sturmmann, gehen Sie hinaus. Schicken Sie sie weg.«
[Mit Nachdruck:] »Herr Strang, das kann ich nicht.«
»Sagen Sie ihnen, Sie sollen zum Teufel gehen. Sie haben wohl vergessen, wer hier das Kommando hat.«
[Meine Hände zittern, während ich dies schreibe. Ich weiß nicht, warum.]
»Ich habe strikte Befehle, Herr Strang. Schriftliche Befehle. Sie selbst —«
»Ich habe hier das Kommando.« [Strang geht zur Trennwand aus Zeltstoff, reißt sie beiseite.] »Ich habe hier das Kommando!« [Er geht hinaus. Weitere Stimmen. Ein Schuss.]
[Pechorin, außer Sicht:] »Lasst ihn los. Das nächste Mal töte ich euch. Habt ihr mich verstanden?«
»Ihr werdet diesem Mann gehorchen! Er handelt mit meiner Vollmacht.«
[Carter lacht. Er schaut zu mir hinüber.] »Er handelt mit seiner eigenen Vollmacht.«
»Ihr werdet ihm zuhören. Ihr werdet ihm gehorchen. Oder ich werde euch eures Ranges entheben, eurer Uniform, eures Namens und eurer Nummer.«
[Ich muss das alles niederschreiben. Das ist meine Aufgabe. Das ist meine einzige Aufgabe. Aber ich bin ein einfacher Mann und ich bete nur darum, dass ich sicher nach Hamburg zurückkehre. Ach, das schöne Hamburg. Was geschieht hier nur mit uns?]
16. April 1921. Wie wäre es, eine Sprache zu entdecken, die Informationen abschießt wie ein Gewehr Kugeln, direkt ins Herz? Wie wäre es, diese Sprache zu entschlüsseln, ohne ihren Inhalt lesen zu können, ohne die genaue Definition ihrer Wörter zu kennen, nur ihre Stellung, ihre Funktion als Auslöserin von Gefühlen? Und das alles in dem Bewusstsein, dass andere ganz genau wissen, was sie bedeuten — jedes Wort, jeder Satz? Dass sie sich alles notieren, Seite um Seite dieser archaischen Sprache?
Wie wäre es, ein Buch aus der Haut der Toten zusammengetragen zu haben, und irgendwo in diesem Buch stehen sämtliche Wörter, die nie hätten ausgesprochen werden sollen, ihre geheimen Bedeutungen, die niemand jemals hätte erfahren dürfen? Wie wäre es, wenn jemand mit einem redete und man wüsste genau, was sie für einen empfanden — das Misstrauen, die Angst, der Neid? All die Dinge, die besser unausgesprochen geblieben wären?
Wie wäre es, diese Bedeutungen in der eigenen Stimme zu hören — jeden Zweifel, jede Eitelkeit? Wie wäre es, den versteckten Rassismus in der eigenen Stimme zu hören, den ... falschen Ton darin, ohne dagegen anzukommen, eine weiche, rosafarbene Narbe? Wie wäre es, das eigene Spiegelbild hören, den eigenen Widerhall spüren zu können? Es ist die Stimme der gefallenen Engel, die wir hier lesen lernen. Es ist die Stimme, die in Babel zersplittert wurde und die in der Hölle ihren Ursprung hatte.
[Eine laut geführte Auseinandersetzung — wütend, verärgert, voller Selbstmitleid und Abscheu.]
»Wir werden Sie brechen.«
[In Carters Stimme klingt eine leise Warnung mit.] »Pechorin.«
»Ich werde Sie brechen.«
»Pechorin. Das muss nicht nochmal geschehen.«
»Sturmmann Macher. Bringen Sie den Gefangenen zum Schweigen.«
»Herr Hauptmann?«
»Machen Sie schon. Nehmen Sie ein Messer. Schneiden Sie ihm die Zunge heraus.«
»Verdammt! Macher, setzen Sie sich und —« [Er sagt etwas, das ich nicht transkribieren kann.]
»Ich — Herr Hauptmann — ich —«
»Bringen wir es hier und jetzt zu Ende, Pechorin. Auf der Stelle! Sie wollen ein wirklich machtvolles Wort hören, Strang?«
[fluchend, beschwörend] » h ja w ve —« [?]
Wir sind in
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