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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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und Geschichten über Götter und Helden und der ganze Scheißdreck — entschuldige meine Wortwahl. Denn das ist alles Unsinn. Das sind nur Geschichten.«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Was ist, wenn es Achilles’ Mutter ist, die einen Sohn hat, der seinen Vater überflügelt? Was ist, wenn das auch auf Io zutrifft? Auf jedes Mädchen, ganz egal welches? Auf jede Frau? Wirklich jede, Anna. Denn kann nicht jeder Sohn seinen Vater überflügeln? Ist es nicht das, worauf es ankommt — ist das nicht der Grund, weshalb wir niemals aufgeben? Du kannst doch nicht mit ansehen, wie sich ein Kleinkind angesichts der Ungerechtigkeit der Welt die Lunge aus dem Leib brüllt, ohne ein wenig Hoffnung für die Zukunft zu haben. Also, wer ist der Sohn — das Kind, das seinen Vater überflügelt? Ich sage es dir, Anna.
    Die ganze Menschheit.«
     
     
    Die Ballade von Seamus Finnan
     
    »Sag es ihr«, flüstern ihm die Bitläuse ins Ohr. »Tu ihr diesen einen Gefallen; sag ihr, wie weit ihr Weg noch ist. Und die andere Geschichte erzählst du uns. Halte uns nicht für unwürdig, deine Worte zu hören. Wir begehren nur dies: Sag uns, wer dich befreien wird. Wie und mit welchen Mitteln?«
    Still jetzt , denkt er.
    »Wenn ich versuchen würde, euch all die Weisheiten meiner lieben alten Mutter aufzuzählen, wären wir noch eine halbe Ewigkeit hier und würden doch nichts dazugelernt haben. Ihr würdet nichts davon verstehen, selbst wenn ich es euch ohne Umschweife erzählte. Wenn ihr es wirklich ernst und ehrlich meint, werde ich mich nicht weigern, euch alles zu sagen, was ihr wissen wollt. Aber denkt daran, Seamus Finnan saß auf diesem Stuhl, war an den Fels gekettet und hing im Stacheldraht, und jetzt ist er nur noch zur Hälfte Seamus und zur Hälfte dieser verfluchte alte Feuerdieb.«
    Er fragt sich, wie der erste Unkin wohl jemals damit fertig geworden ist. Natürlich ist es Wahnsinn, keine Frage, mit dem Mädchen zu reden, das damals, 1922, deine Geliebte war, aber dir steht klar und deutlich vor Augen, was noch geschehen wird – so klar und deutlich wie eine Erinnerung – so klar und deutlich, dass die Gegenwart dahinter verblasst und du nicht mehr weißt, ob du dich in der Zukunft befindest und die tote Vergangenheit noch einmal durchlebst oder in der Vergangenheit und dich an die Zukunft erinnerst, bevor sie geschieht. Die Zeit im Vellum, denkt er.
    Er spürt den Ziegenlederhandschuh warm in seiner Hand liegen, und er spürt, wie der Draht in seine Handgelenke schneidet, und er spürt den kalten kaukasischen Felsen im Rücken.
    »Das sind die Beweise für das, was du sagst«, zischen die Bitläuse, »und uns gilt es als Beweis für deinen Weitblick – dass du mehr siehst als das, was sichtbar ist.«
     
    Aber da liegt eben der Hase im Pfeffer, denkt Seamus Schamasch Padraig Prometheus Finnan – Finn, der Riese Irlands und der Riese der Welt, halb wach und halb schlafend unter den lastenden Träumen der Menschheit, ebenso sehr ein Geschöpf des Vellum wie ein Mann voller Leben, Liebe und Lust. Sind diese Bitläuse nun Häscher, die nur dem Gebot ihres Herrn folgen und den armen Seamus wie einen Eimer benutzen, den man in einen Brunnen wirft, um die Geheimnisse der Zukunft aus den Tiefen seiner Vergangenheit heraufzuziehen? Oder sind sie Geschöpfe, die selbstständig handeln, die nur das wollen, was wir alle wollen: sich selbst verstehen und einen festen Platz in der Welten Lauf finden?
    Sie sitzt am Fuß seines Felsens – Anna, Phreedom, Io, in ihrem langen weißen Kleid, und ihr dunkles Haar weht im kalten Wind. Befinden sie sich hier in Inchgillan oder im Kaukasus? Sie hält seine Hand, die an den Fels gekettet ist – Herrgott, schneidet der Draht tief ein –, und so, wie sie ihn anschaut, weiß er irgendwie, dass es nicht von Bedeutung ist, ob sie ein Phantom ist, nur eine Gestalt, welche die Bitläuse angenommen haben, um sich mittels seiner Erinnerungen mit ihm zu verständigen.
    »Dir also zuerst, Io«, sagt er, »erzähle ich von den Fahrten, die dich zur Verzweiflung treiben werden. Meißle sie in die Tafeln deines Herzens hinein, denn du weißt, du weißt, dass das, was ich sage, wahr ist. Ich werde dir sagen, was du wirst aushalten müssen, und wenn du mir ein wenig Zeit gibst, werde ich zur Sache kommen und dich bis ans Ende deiner Irrfahrten geleiten. Ich werde dir alles erzählen, und wenn es etwas gibt, das du nicht verstehst und das schwer zu verstehen ist, dann frage mich. Ich werde versuchen,

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