Vellum: Roman (German Edition)
sich geändert, Seamus. Es geht nicht mehr nur um dich und mich. Auch nicht um dich und mich mit Thomas, der ... der uns beiden etwas bedeutet hat. Jetzt ist nur noch Jack wichtig.«
»Ein neuer Anfang«, sagt er. »Ach, Mädel, manchmal werden Märchen ja auch wahr. Da bin ich mir ganz sicher.«
Er hofft es. Er betet darum. Schließlich will er nicht glauben, dass Gott nichts weiter ist als ein scheißtyrannischer Fürst wie all die anderen, dass seine Brutalität keine Grenzen kennt. Bei all den Streichen, die ihm das Schicksal gespielt hat, wäre das kein Wunder. Er glaubt — er hofft —, dass es nur die Gedankenlosigkeit eines ... eines schneidigen jungen Helden war, der seine Geliebte bedrängte, ihm seinen heißesten Wunsch zu erfüllen, bevor er wieder an die Front zurückgeschickt wurde, ohne darüber nachzudenken, was das für Folgen haben könnte, dass seine Geliebte deswegen aus der Gesellschaft ausgestoßen werden könnte. Vielleicht ist der Engel Gabriel auch genau so zur Heiligen Maria gekommen, denkt er, als Soldat mit Hundemarke um den Hals, einfach nur auf der Suche nach einer Liebesnacht, bevor er wieder gegen die Schlange in den Kampf ziehen musste, ohne einen Gedanken an den ›Mord an den unschuldigen Kindern‹ oder die ›Flucht nach Ägypten‹ zu verschwenden; oder an einen armen Jungen am Kreuz und seine Mutter, die um ihn weint.
Wenn es doch nur etwas gäbe, mit dem er sie trösten könnte.
Einen elenden Verehrer hast du da geehelicht, sagt er, o Jungfer. Denn die Worte, die du jetzt gehört hast, sind erst der Anfang.
»Wie bitte?«, sagt sie.
Er wirkt verlegen.
»Das habe ich irgendwo gelesen. Du wärst stolz auf mich, Anna, ganz bestimmt. Und Thomas, der würde sich totlachen bei dem Gedanken, dass ich jetzt Klassiker lese und solche Sachen. Aber dieser Maclean — der war früher Lehrer, wusstest du das? Es kommt nur auf die Erziehung an, sagt er immer. Auf das Wissen. Auf Wörter. Ideen. Da liegt die wahre Macht.«
Sie schüttelt den Kopf und stößt lächelnd einen Seufzer aus.
»Seamus Padraig Finnan. Der Bücherwurm.«
Sie lachen und er wartet, bis sie sich wieder beruhigt hat. Die Spannung, die zwischen ihnen aufgekommen ist, legt sich etwas.
»Aber verstehst du, ich musste daran denken, weil, das ist aus einem Schauspiel von diesem Griechen, Aischylos, über diesen Titanen, Prometheus. Kennst du die Geschichte? Wie er an Zeus’ Seite gegen seinen tyrannischen Vater gekämpft hat und sich dann gegen ihn wendete, um der Menschheit das Feuer zu bringen, und wie er dafür bestraft wurde, an einen Berg gekettet, und die Geier fressen seine Eingeweide.«
»Adler«, sagt sie. »War das nicht ein Adler?«
»Du kennst sie also?«
»Nachdem ich so lange mit Thomas im selben Haus wohnte? Natürlich, wie sollte ich diesen ganzen Unsinn über Mythen, Legenden und was weiß ich noch nicht kennen? Hast du jemals erlebt, dass er den Mund gehalten hätte — Himmel, Finnan — wenn er nicht über Moderne Kunst redete, war es die Griechen dies und die Griechen das und — natürlich kenne ich die Geschichte.«
Und er schaut ihr in die Augen und ihm wird plötzlich bewusst, dass in ihnen beiden etwas verheilt ist, dass sie nun mit Zuneigung und Lachen zurückblicken können, wie sie es bei der Totenfeier getan hätten, die nie stattgefunden hat — selbst wenn es nur für einen Moment ist und selbst wenn sie die Traurigkeit nie ganz verlassen wird.
Prometheus’ Geheimnis
»Aber hör mir trotzdem zu«, sagt er. »Du weißt doch, dass Prometheus an seinem Felsen dreimal Besuch erhielt. Erst von einem alten Soldaten, dem Titanen Okeanos, der im Krieg gegen den alten Kronos an seiner Seite gekämpft hatte. Und am Schluss dann von Hermes, den Zeus geschickt hatte, damit er ihn zum Reden bringt. Denn Prometheus weiß etwas, verstehst du, er weiß, wer Zeus stürzen wird, so wie Zeus seinen Vater vom Thron gestoßen hat. Aber das ist es nicht, worauf es mir ankommt. Denn zwischen Okeanos und Kronos tritt noch jemand anderes auf, genau in der Mitte des Schauspiels, verstehst du, das Mädchen Io. Das ist ein armes kleines Ding, auf das Zeus wieder mal ein Auge geworfen hatte und dem er mitten in der Nacht einen Besuch abstattete. Das hat der lüsterne alte Sack immer so gemacht, und natürlich muss letztlich sie die Folgen tragen, sie wird verstoßen und irrt in der Welt herum, aus ihrem Zuhause ist sie deswegen verjagt worden. Ein armes Mädchen, das gedemütigt wird,
Weitere Kostenlose Bücher