Vellum: Roman (German Edition)
weil sie sich etwas hingegeben hat, das ... außergewöhnlich und wahrhaftig zu sein schien.«
Sie nimmt seine Hand.
»Aber ihr«, sagt er, »ihr verrät Prometheus sein Geheimnis, weil sie ebenfalls ein Opfer von Zeus ist. Seiner Meinung nach sitzt sie nicht halb so tief in der Tinte wie er, denn sie kann sich immer noch umbringen, während er ... nun, ihm ist dieser Luxus nicht vergönnt, Prometheus wird diese Gnade nicht zuteil, er leidet immerzu, in einem fort, bis in alle Ewigkeit.«
Seamus lächelt sie an und seine Augen funkeln.
»Na ja, jedenfalls macht er ein Riesentrara darum, von wegen es sei doch nicht fair, jemandem zu erzählen, der ... ok, du bist also in eine Kuh verwandelt worden und irrst auf der ganzen Erde herum, aber schau doch mal mich an, mir wird von verdammten Geiern die Leber herausgerissen. Und das kann man wohl kaum als taktvoll bezeichnen! Aber schließlich ist es ein Schauspiel, also kann man ihm verzeihen, dass er ein wenig übertreibt. Wir neigen alle dazu, unsere Probleme zu wichtig zu nehmen und zu vergessen, dass es andere auch nicht einfach haben.
Das Entscheidende ist, dass er zu ihr sagt: Du hast die Wahl zwischen zwei Geschichten. Möchtest du erfahren, wie dein Leid ein Ende nimmt oder wie ich endlich frei komme? Werden wir denn eines Tages frei sein?, fragt sie. Nun, wenn der König der Götter eines Tages, sagen wir, abgesetzt wird, antwortet er. Aber ist das möglich?, fragt sie. Es ist eine schöne Vorstellung, sagt er, die würde dir doch gefallen, nicht wahr? Wie auch nicht, sagt sie, nach dem, was der Wichser uns angetan hat, und er sagt, nun, du kannst dich darauf verlassen. Und wer wird ihn zugrunde richten? Zeus wird sich selbst zugrunde richten, sagt er, aufgrund seiner eigenen Dummheit und Ungehobeltheit. Und wie? Nun, da draußen lebt ein junges Mädchen, ein zierliches Persönchen, niemand misst ihr große Bedeutung bei, man sieht es ihr vielleicht auch nicht an, sie ist eben nur ein Mädchen, aber vielleicht hat sie etwas, das Königen und Göttern nicht auffällt, denn jeder ihrer Söhne, verstehst du, jeder wird eines Tages viel mächtiger sein, als es sein Vater je war.«
»Das erzählt er ihr, verstehst du? Er erzählt ihr, dass er der Einzige ist, der weiß, welches Mädchen damit gemeint ist — er, Prometheus, und er wird es niemals verraten. Zeus wird einfach so weitermachen, so wie immer, er wird arme junge Mädchen verführen und hinterher keinen Gedanken mehr an sie verschwenden, und niemand kann den Wichser dafür zur Rechenschaft ziehen. Bis eines Tages ... eines Tages ... Und Prometheus weiß Bescheid, aber seine Lippen sind versiegelt. Klar, sie können ihn bis in alle Ewigkeit festketten und foltern, aber das wird er nie verraten, denn er weiß, und das erzählt er ihr auch, verstehst du, das erzählt er Io, dass er weiß, dass es ihr Nachfahre, einer ihrer Nachfahren sein wird, der ihn befreien wird, ganz sicher.«
»Ach, Seamus, aber du hast alles durcheinandergebracht.«
»Wie das?«, fragt er.
»Ich kenne die Geschichte, aber es ist Achilles, Seamus.
Seine Mutter ist diejenige, die einen Sohn haben wird, der seinen Vater überflügelt, in den Geschichten, in den Mythen, und das trifft auch ein. Aber Zeus rührt sie nicht an. Bei Io ist das völlig anders und — du bringst alles durcheinander, das sind zwei verschiedene Geschichten, die nicht zusammengehören, Seamus.«
»Nein«, sagt er. »Ich meine — schön, ich weiß, dass du Recht hast. Ich bin mir sicher, dass du Recht hast, streng genommen jedenfalls. Aber kommt es darauf an? Ich meine, spielt es wirklich eine Rolle, ob es Ios Sohn ist, der eines Tages Prometheus’ Ketten zerreißt, oder das Kind ihres Kindes oder ein Nachfahre drei oder zehn Generationen später? Spielt es eine Rolle, dass es nicht dasselbe Kind ist, das den großen und mächtigen Zeus stürzt, selbst wenn das beides dasselbe ist, im Grunde genommen jedenfalls, den alten Rebellen befreien und den alten Tyrannen stürzen? Spielt es eine Rolle, ob ein anderer griechischer Geschichtenerzähler, irgendein Blinder, der an einer Straßenecke hockt, beschließt, Achilles zu dem Sohn zu machen, der seinen Vater überflügelt, um seine Geschichte großartiger klingen zu lassen?«
Er beugt sich zu ihr hin.
»Anna, ich sehe die Wahrheit, die darin verborgen liegt. Ich glaube, ich kenne Prometheus’ Geheimnis, Anna, und es ist eine Erkenntnis, die einleuchtender ist als all die Prophezeiungen
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