Vellum: Roman (German Edition)
Eurer Fahrt alles Gute. Für den Kontinent der Asche ist das typisch.
»Willst du an der Feier nicht teilnehmen?«, fragt Don.
Er setzt sich neben sie an den Tisch und weist mit einer Handbewegung auf die festlichen Darbietungen im Saal. Eine Gruppe junger Männer verleiht ihrer Ergebenheit gegenüber der Sonne mit einem Reihengesang Ausdruck, und der Bräutigam ist mit einem goldenen Kranz gekrönt, während die Frauen wie Derwische um sie herumwirbeln, Blumenblüten verstreuen, lachen. Die Älteren, bereits Vermählten, stehen in einem größeren Kreis um sie herum und klatschen im Rhythmus der Tamtams und eines Instruments, das einem Kontrabass ähnelt. Die Musiker auf der Bühne in ihren weißen gerafften Gewändern, roten Halstüchern und Seidengürteln, das übermütige Durcheinanderwirbeln von Bräuchen, das Schreien und Jauchzen — all das erinnert sie an Sinti, Juden und Griechen. Sie zerschlagen hier sogar Dinge, keine Teller oder Gläser, sondern Holzspielzeug; die Kinderspielsachen der Braut und des Bräutigams werden feierlichst zerschlagen. Für den Neubeginn in der Welt der Erwachsenen, der Verheirateten, wird ihrem alten Leben symbolisch ein Ende bereitet. Sie betrachtet die übel zugerichteten Körperteile einer Puppe, die vor ihr auf dem Tisch liegt, ein kleiner Junge mit einer Trommel. Arme und Beine und der Kopf sind abgebrochen, hängen jedoch noch immer an den Fäden, die sie einst zusammengehalten haben. Alles Teil einer Tradition. Alle Gäste dürfen eines der kaputten Spielsachen mitnehmen, als Erinnerung an die Hochzeit, an eine Kindheit, die das Brautpaar hinter sich gelassen hat.
»Was ist los, Anna?«, fragt Don.
Sie schüttelt abwehrend den Kopf. Ihr Becher — gefüllt mit irgendeinem Getränk aus fermentierter Milch — steht unberührt neben der Puppe.
»Willst du es wirklich wissen?«, fragt sie. »Ich habe keine Ahnung.«
Aber das stimmt nicht. Sie weiß, dass es eigentlich keine Rolle spielt, ob Jack nun Finnans Sohn oder der des Engels ist, oder der Sohn einer der zahlreichen Kerle, mit denen sie für Geld ins Bett gegangen ist, um sich durchzuschlagen, als sie gar nichts mehr hatte; er war ihr Sohn. Sie hätte nie zulassen dürfen, dass sie ihn ihr wegnahmen.
Ein New Yorker Märchen
»Ich werde nicht zulassen, dass sie ihn mir wegnehmen, Seamus. Ich werde fortgehen, weit fort, Seamus, nach Amerika. Kannst du dir das vorstellen, Seamus? New York. Es heißt, es wäre so wundervoll, mit all den Glastürmen, die sich dem Himmel entgegenrecken. Wir werden dorthin gehen, Jack und ich, und ich werde allen sagen, dass ich Witwe bin, ich werde schwarz tragen, wirklich, Seamus, das werde ich. Und er wird dort kein Kind der Schande sein.«
Sie lächelt traurig.
»Glastürme und eine arme Witwe mit einem Jungen namens Jack. Klingt wie ein Märchen, nicht wahr?«
Sie sitzen am Rand der Bühne, der Saal ist leer. Himmel, er hatte seinen ganzen Mut gebraucht, um nicht wegzulaufen, nicht in der Menge unterzutauchen, sich nicht zu ducken und zur Tür hinauszuschleichen. Nur weg. Aber hier zu warten, bis die Menge sich aufgelöst hatte und sie dastanden und einander ansahen, ohne zu wissen, was sie sich sagen sollten!
Er stellt sich vor, wie sie auf der stürmischen See ihres Leids nach New York segelt, und am liebsten würde er sie hier behalten, zu ihr sagen: Bist du verrückt? Und was machst du dann, ganz allein, ohne jemanden, der für dich sorgt? Du hast ja keine Ahnung, welchen Schwierigkeiten du entgegenreist, welche Eisberge aus Kummer unterwegs auf dich warten. Du kannst nicht einfach davonlaufen.
»Das wird schwer«, sagt er. »Ganz alleine, meine ich. Du mit einem kleinen Kind und so.«
Aber was kann sie schon hier halten, in einem Land, in dem von einer unverheirateten Mutter geradezu erwartet wird, dass sie sich von der nächstbesten Klippe ins Meer stürzt? Das ist es, was ihnen übrig bleibt — sie gehen um der Erlösung willen ins Wasser. Und dann heißt es: Ach, wie schade und das arme, arme Mädchen, aber insgeheim denken sie: Vielleicht ist es besser so für alle, dass sie tot ist, als ihr Leben lang zu leiden, und an das Kind muss man ja auch denken; jetzt muss niemand von der Schande erfahren. Scheinheilige Bande, denkt er.
»Es wird schwer«, sagt er, »aber wenn ...«
Er sucht nach Worten. Wenn du willst, komm ich mit dir.
»Wenn ...«
Wenn du mich willst, komme ich mit dir.
»Wenn ...«
Sie schüttelt den Kopf.
»Die Zeiten haben
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