Vellum: Roman (German Edition)
alles zu erklären. Ich habe mehr Zeit totzuschlagen, als mir lieb ist. Ich gebe dir alles, was du haben möchtest.«
»Dann sing uns ein Lied, Tam. Bitte. Die Ballade von Seamus Finnan, ja?
Sie wendet den Kopf und betrachtet den Mann, der in die Saiten schlägt und anhebt.
»Es war ein Mann namens Seamus Finnan heuer, der zog in den Krieg, um das große Spiel zu spielen. Es lag nicht am Blut und es lag nicht am Feuer, doch sein Herz brach im Stacheldraht, eines unter vielen.«
Sie hat den Liedern gelauscht, die über sie gesungen wurden. Sie hat gehört, wie ihre langen Reisen in epischen Versen erzählt wurden, ihre
Vergangenheit und ihre Zukunft, was geschehen würde, wenn sie die Melassenlande erreichten, in der Nähe der sprechenden Eichen in den Bergen der Neuen Dordogne, wo diese proteischen Herzöge als Orakel auf ihrem Thron sitzen. Heute hat sie mehr denn je den Eindruck, dass sie nur den Spuren der Worte folgen, die vor langer, langer Zeit gesprochen wurden. Auch kennt sie die Geschichten über Jack, das Wunderkind, das Wanderkind, und diejenigen, die diese Lieder singen, behaupten nimmermüde, dass sie die berühmte Verlobte eines Deus sei. Es ist seltsam, wie sich die Dinge hier im Vellum verändern, als versuchten die Menschen, die Welt in einfachere Worte zu fassen, je wandelbarer sie ist. Und jetzt sitzt sie in der Taverne und lauscht der Ballade von Seamus Finnan, einem Volkslied über diesen junge Iren, der auszog, im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Finnan war nie der Typ, der viel über seine Vergangenheit geredet hat, aber während sie dem Lied lauscht, läuft ihr ein Schauer über den Rücken.
»Ach, weder für Belgien war es noch für das Frankenreich. Auch für England würd’ sich dieser Tanz nicht lohnen. Für die Liebe eines irischen Mädchens marschierte er gleichwohl durch den Matsch und das Gas und die Kanonen.«
»Verstehst du, Anna, sein Schatz hatte einen Bruder namens Tom, und der hat mit den Füßen den Trommelschlag mitgeklopft. Mit seinen Kumpels vom Trinity hat er in den Kneipen einen draufgemacht. Und sie haben sich anwerben lassen und sind bei den Dubs eingetreten.«
Das Wirtshaus — nein, eigentlich ist es eher eine Kneipe — passt zu Finnan wie die Faust aufs Auge. An einer Wand hängt ein Hirschkopf und dort drüben steht ein Indianerjunge aus Holz und die Pappmascheestatue einer Herrscherin, die für ihre Grausamkeit gehasst und Eiserne Lady genannt wird: mitsamt der spitzen zerklüfteten Nase und den wachsamen Augen einer politischen Karikatur. Hinter der Bar sind Hunderte von Whiskeysorten aufgereiht. In einer Ecke sitzen Männer auf alten hölzernen Kirchenbänken und spielen Gitarre, Geige und Bodhrán. Die Kneipe selbst heißt Uisge Beatha. ›Wasser des Lebens‹, erklärt Don. Draußen werden die Fluten des Golf von Rear vom selben Sturm aufgewühlt, der ihr kleines Schiff schon die ganze Fahrt entlang der Küste hin und her geworfen hat. Wellen branden über den Deich von Nova Iona und durch die Bläschenglasscheibe sieht man hin und wieder einen Verrückten in einem gelben Regencape, der sich gegen die Wildwinde der Dämmerung stemmt, einen Schritt vor, zwei zurück, die eine Hand erhoben, um den grauen Mahlstrom mechanischer magischer Mücken anzuwehren — die Bitläuse, denen sie nicht entkommen können, ganz gleich, wie weit sie laufen. In der Welt vor diesem Jenseits ist sie nie in Schottland oder Irland gewesen, aber das hier ist anscheinend ein kleines Stück keltischer Landschaft, in den Tiefen des Vellum gelegen, ein Archipel für Exilanten. Sie stellt sich vor, wie Seeleute aus dem antiken Ionien durch Risse in der Wirklichkeit hier vorbeigeweht werden und mit Geschichten über seltsame Inseln im Westen — die Hebriden — nach Hause zurückkehren.
»Seamus schmerzte Annas Traurigkeit sehr, und so reiste er dem Bub hinterher. Und er nahm seine Ausrüstung und folgte Tom den weiten Weg bis an die Somme.«
Drei oder vier von den anderen, die am Tisch saßen, stimmten in den Refrain ein.
»Das Leben ist hart und das Leben ist schwer. Der Tod kommt so schnell und das Blut fließt ins Meer. Am schwersten jedoch ist’s für die, die noch leben, den Sterbenden den letzten Abschied zu geben.«
Eine Stadt
»Wenn es noch etwas zu erzählen gibt«, sagen die Bitläuse im Chor, »so erzählt uns von ihrer traurigen Reise. Erzählt von dem, was kommen wird oder von dem, was war. Doch wenn Ihr damit fertig seid, dann erweist uns die Gunst,
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