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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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die Ihr uns versprochen habt. Denkt daran.«
    Und so spricht Prometheus zu Io:
    »Wenn du die tosenden Fluten überquert hast«, sagt er, »und die Grenzen der Kontinente überwunden, der lodernden Sonne des Orients entgegen, wirst du eine große Ebene mit gewaltigen Zisternen erreichen, tief in der Erde, wohin des Abends oder in der Nacht weder Sonnenstrahlen noch Mondschein fallen ...«
    Vorsichtig lenken sie ihre Pferde über das vernarbte Land, das sie mit den Nachtsichtbrillen aufmerksam absuchen, um vor den Gefahren der Gegend gewarnt zu sein, wie auch vor den Gefahren, die seine Bewohner für sie bedeuten. Die Barackenstadt erstreckt sich kilometerweit in alle Richtungen — Zelte und Hütten aus Brettern und Wellblech, die Phreedom an die Randbezirke von Mexico City erinnern. Hier und dort ragen die Stümpfe erloschener Vulkane auf. Die Straßen sind nicht gepflastert und werden von brennenden Öltonnen erleuchtet, um die sich die Bewohner dieses verwundeten Landes kauern. Wenn sie vorbeireiten, blicken sie nur kurz zu ihnen auf. Ein Junge, der aus einem der Brunnen einen Eimer heraufzieht, hält inne und starrt sie an, das Seil in der Hand, und als sein Blick auf die silberne Querstrebe des Zerspalters fällt, den Don auf dem Rücken trägt, leuchten seine Augen. Ein Stück weiter leert ein alter Mann ergeben einen Koteimer in eines der Löcher und lässt dann das Wellblech scheppernd über die Jauchegrube fallen. Sie fragt sich, ob der Gestank jetzt schlimmer ist als zu der Zeit, als der Vulkan noch aktiv war, als Schwefeldämpfe durch das geschmolzene Gestein aufwärts sprudelten und dieses ruhelose Land aus Gruben und schmalen Brücken schufen, das jeden Augenblick wieder vergehen kann.
    Don pfeift vor sich hin und sie reiten weiter.
     
    »So weit wie möglich«, hatte sie gesagt.
    Drei alte zahnlose Vetteln mit von Reifen aus Elfenbein langgezogenen Hälsen sitzen weiß wie Schwäne im Mondschein auf einem Teppich vor einem Zelt. Alle drei zusammen haben nur ein Auge in ihren von Narben überzogenen Gesichtern, und das wird von einem Ding in ihrer Mitte angestrahlt, das wie der leuchtende Hauer eines Keilers aussieht; es ist heller als der Mond. Als sie einen Blick durch den Eingang einer Hütte wirft, sieht sie drei Frauen, deren Körper von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen schillernder Drachenschuppen bedeckt sind. Sie sind nackt bis auf die Schleier, die ihre Gesichter verhüllen, und bis auf ihr langes Haar, in das Perlen geflochten sind und das ihnen über Rücken und Schultern fließt. Eine von ihnen öffnet ihre schwarzen Schwingen, als sie und Don vorbeireiten. Ein Duft wie von Weihrauch strömt aus der Hütte zu ihnen herüber, süß und faulig, ein feines Gift, Mandel und verdorbene Früchte, Hefe und brennendes Plastik. Wesen, die größer als Katzen sind und kleiner als Hunde, schleichen schnüffelnd zwischen hohen Abfallhaufen herum; unter ihrem goldenen Fell zeichnen sich die Rippen ab, Schnäbel rupfen stumm an Essensresten, Flügel flattern, wenn sie diesen oder jenen Brocken verteidigen. Graia, Gorgonen und Greife.
    Sie blickt nach links, wo ein weiterer schauerlicher Anblick auf sie wartet. Eine Reiterschar beobachtet sie von der anderen Seite eines tiefen Grabens — eine Gosse, in der eine goldfarbene Flüssigkeit rasch dahinfließt, die wie eine Mischung aus Pisse und Bier riecht. Die Reiter sind alle einäugig und in dieser Gegend als ›Spione Ahrimans‹ bekannt. Es heißt, nachdem sie sich ein Auge ausgestochen haben, blickt jemand anderes aus der leeren Augenhöhle, aus dem Auge, das nicht mehr da ist, und sie werden zu einer Kamera für denjenigen, der Macht über sie besitzt und irgendwo in einem abgedunkelten Raum von Tausenden von Bildschirmen umgeben ist.
    »Glaub mir, Phree«, hatte Finnan gesagt, »im Vellum lauern Gefahren, die du dir überhaupt nicht vorstellen kannst. Aber hier ...«
    Er hatte den Satz nicht zu Ende gesprochen, sondern nur den Kopf geschüttelt. Natürlich konnte er sie nicht zurückhalten. Sie gehörte jetzt zu den Ungeheuern. Ihr Ziel war das Vellum — sie wollte den Konvent möglichst weit hinter sich lassen, dann wäre sie sicher. Sie und Jack wären dann sicher.
    »Vielleicht«, hatte er gesagt. »Wie weit willst du denn gehen?«
    »So weit wie möglich«, hatte sie erwidert.
     
    »Es gibt eine Stadt namens Baldachin«, sagt er, »die letzte in einem fernen Land, ganz in der Nähe des Ortes, in dem die Sonne aufgeht. Dort lebt ein

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