Vellum: Roman (German Edition)
lächelt ihm zu, beugt sich vor und platziert ein Auge auf dem Netzhautscanner und einen Daumen auf dem Sampler. Der Beamte fährt mit den behandschuhten Fingern über eine nicht vorhandene Tastatur und blickt für einen Moment durch ihn hindurch, während die Informationen über seine Linse scrollen. Metatron nimmt sie als Spiegelung in der Pupille seines Gegenübers wahr – geheimnisvolle, kurz aufflackernde Lichtblitze aus einer fernen Datenbank: Geburts- und Staatsbürgerschaftsurkunde, polizeiliches Führungszeugnis, Steuerbescheide. Alles erweist sich erwartungsgemäß als einwandfrei und sauber. Enosch Hunter ist Afroamerikaner, ledig, Dozent an der Universität von North Carolina, wohnt in Asheville auf dem Campus und hat sich auf Anthropologie und Archäosoziologie spezialisiert – ein Steuerzahler, ein ehrlicher Bürger. Metatron schiebt den Pass in die Innentasche seines langen schwarzen Ledermantels, streicht sich die Dreads in den Nacken und antwortet ›Ihnen auch‹ auf das ›Einen schönen Tag noch‹ des Beamten.
Der Pass ist nicht etwa gefälscht. Enosch Hunter existiert durchaus. Diese Identität ist ein Konstrukt, aber dennoch wasserdicht, so widerstandsfähig wie Mahagoni. Hier und jetzt, an diesem Punkt in Raum und Zeit, in diesem kleinen Winkel des Vellum, ist Enosch Hunter ebenso wirklich wie der Zollbeamte. Wie jeder andere Mensch auch erinnert er sich an Kindheit und Erwachsenenalter, er hat Spuren in der Welt hinterlassen, er hat Freunde und Familie. Metatron erinnert sich noch gut an den Vortrag, den er in Paris gehalten hat. Er weiß noch, wie er mit seinen Kollegen in einem Fischrestaurant zu Abend gegessen und mit ihnen gelacht hat. Es ist eben alles nur vorübergehend. Während er durch die lautlosen automatischen Schiebetüren tritt, die in den Sonnenschein Nordkaliforniens hinausführen, wechselt Enosch Hunter wieder hinüber in das Möglichkeitsfeld, dem er entstammt, und er gerät ebenso schnell in Vergessenheit, wie er geschaffen wurde. Als Metatron den kleinen schwarzen und in Leder gebundenen Palmtop aus der Tasche nimmt und aufklappt, hat Enosch Hunter aufgehört, jemals existiert zu haben, und die augenblickliche Wirklichkeit rückt wieder an ihren Platz zurück. Die Konferenz in Paris hat nie stattgefunden. Der KLM-Flug von Schiphol nach Newark, der Northwestern-Flug von Newark nach Charlotte – nirgendwo gibt es Aufzeichnungen über einen Enosch Hunter, der Businessklasse geflogen wäre.
Carter und Pechorin, seine beiden Speerträger, warten auf dem Parkplatz des Flughafens. Carter sieht aus, als hätte ein Bauernjunge aus dem Mittelwesten eine Elfenprinzessin geheiratet – strohblond und mit vorstehendem Kinn, aber schlank wie ein Windhund, eher ein Turner als ein Quarterback. Pechorin hat ein kantiges slawisches Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und strahlt eine ruhige, katzenhafte Intensität aus. In ihren schwarzen Mafiaanzügen sind sie gepflegte, uramerikanische Engel, ein Ausbund an Effizienz. Das sollten sie auch sein; schließlich hat Metatron sie selbst geprägt.
Die anderen fünf Sebettu werden ihnen vermutlich in einem nicht gekennzeichneten Lieferwagen folgen – Unterstützung, falls die Dämonen seinen Ortswechsel bemerkt haben, das Kielwasser, das sich im Vellum auf seinem Weg von einer Zeit in die nächste hinter ihm gebildet hat. Es ist unwahrscheinlich, aber ausschließen kann man es nicht.
»Freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Sir«, sagt Carter, streckt ihm die Hand entgegen und rutscht von der Motorhaube herunter. Natürlich können sich weder Carter noch Pechorin im Augenblick an ihre Prägung erinnern oder an irgendetwas anderes. Sebettu sind unter den eingeschränkten Bedingungen des menschlichen Daseins nur bedingt einsatzfähig.
Metatron schüttelt ihm geistesabwesend die Hand, noch immer damit beschäftigt, die Schriftzeichen zu entziffern, die über seinen Palmtop scrollen. Er wartet, bis Carter ihm die Autotür öffnet, und nimmt dann auf dem Rücksitz Platz, den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet.
»Soweit ich weiß, hatten Sie Probleme, ihm auf den Fersen zu bleiben«, sagt er.
»Schlüpfriger kleiner Wichser«, erwidert Carter.
»Das war er schon immer«, sagt Metatron. »Oder konnte es jedenfalls sein.«
Thomas Messenger, denkt er und betrachtet die Schriftzeichen in seinem elektronischen Buch des Lebens. Metatron fragt sich, ob der Junge überhaupt weiß, was er ist, was sie alle sind. Oder sein
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