Vellum: Roman (German Edition)
seinen rauen, organischen Perlenbrüdern. Thomas schüttelt wilden Regen aus seinem Haar, schnaubt wie ein Pferd und lacht zum Himmel hinauf, öffnet weit den Mund. Wenn er noch im Geringsten abergläubisch wäre – er zuckt mit den Achseln –, wäre der Heilige Christopherus der Situation eher angemessen. So oder so verfügt er jetzt über seine eigenen Schutzzauber.
Es donnert. Er schreibt etwas in sein Tagebuch. Nach den Tagträumen spendet der Schlaf nur finsteren Trost, Schlaf in den Armen eines Fremden. Sex ist ein Spiel. In einer Bar aufgegabelt, in einem Motel gevögelt. Wach. Wachsam. Warten. Weiter. Immer dasselbe, denkt er, ein Rasthaus folgt auf das andere. Manche sagen Beatnik zu dir, andere Schwuchtel, andere sagen gar nichts, beobachten dich nur, trinken ihr Bier mit trockenen Lippen, trockenem Mund, trunken von dir. Lange Haare – he, bist du ein Mädchen? – Hippieaufnäher – wohin bist du unterwegs, nach Kanada oder Mexiko? – die blauen, für Stiefel geschnittenen modischen Jeans am Arsch aufgerissen – was kostet der denn, Jüngelchen?
Und du musst nur warten, bis er mit seinen Freunden fortgeht ... und alleine zurückkommt.
»Mach, dass du fortkommst. Hau einfach ab ... hier, nimm das und dann geh.«
Er zuckt mit den Achseln. Er wollte kein Geld, aber es wird ihm angeboten ... Er fährt mit den Fingern durch das Büschel widerspenstiger Haare unterhalb seines Nabels – streckt sich, lässt den Schwanz in seine natürliche Lage rutschen, zieht die Jeans an und knöpft sie zu, schließt den Gürtel. Draußen wird es allmählich wieder hell. Drinnen hat der Redneck seinen Appetit gestillt und in seinem Gesicht brennt der Abscheu und noch mehr die Scham. Und Thomas zuckt gleichgültig mit den Achseln.
»In der Schrift steht, dass es Sünde ist, einem Mann beizuliegen, als sei er eine Frau. Aber darin steht nicht, es sei eine Sünde, ihm beizuliegen, als wäre man selbst eine Frau.«
Dass dich die Raben fressen, denkt er.
»Verdammter Hippiedrückeberger«, murmelt der Mann, »mir wird übel, wenn ich dich nur anschau.«
»Sicher. Red du nur.«
Und Thomas spürt – unter seinem Hemd, auf seiner Brust, zwischen all den Perlen – die Hundemarken ... kalt, scharfkantig, metallisch. Du hast nicht die geringste Ahnung. Dieser Thomas ist ein neunzehnjähriger Veteran. Neunzehn Jahre und so alt wie der Krieg.
Er zieht sich seinen Mantel über und tritt durch die Tür in den strömenden Regen hinaus, der seine Fährte hinter ihm fortspült, nach jedem Schritt. Wenn er nur lange genug im Regen geht, denkt er, wird er vielleicht sogar seinen Geruch fortspülen.
Aber dafür müsste er seinen Geruch von der Haut des Vellum waschen, und dort ist er ziemlich tief eingeprägt.
Die Löwin und die Gazelle
Das Herz, des Hirten Herz, Tammuz’ Herz war voll der Tränen. Tammuz taumelte über die Steppe, stolperte und fiel und schluchzte:
»O Steppe, stimm ein Wehklagen an! O Krabben des Flusses, trauert um mich! O Frösche des Flusses, weinet um mich! O Sirtur, Mutter, seufzet für mich! Und wenn sie die fünf Brote nicht finden kann, wenn sie die zehn Brote nicht finden kann — wenn sie den Tag meines Todes nicht weiß —, dann sag es ihr, o Steppe, ich flehe dich an, sag es meiner Mutter. Auf dieser Steppe wird meine Mutter um mich weinen. Auf dieser Steppe wird meine Schwester um mich trauern.
Und auf dieser Steppe legte sich der Hirtenjunge zum Schlafen nieder. Tammuz legte sich zum Schlafen nieder, und während er zwischen den Knospen und Binsen ruhte, träumte er einen Traum.
Tassili n’Ajjer oder Lascaux, 10.000 v.u.Z. oder heute.
Es ist ein trockener, heißer Tag in der Savanne — die Sonne raubt der Welt jede Farbe — und ein Löwe schleicht langsam durch das hohe Gras. Einem schlanken Bock zucken die Nüstern, als er den Geruch des Raubtiers aufnimmt, und er blickt uns an, blinzelt mit langen Wimpern über tiefschwarzen Augen. Geier kreisen träge am Himmel. Wir schauen uns um und sehen eine Herde Auerochsen, die unter freiem Himmel weidet, und — wie gespenstische Umrisse über diese Vision von einer Steppe gelegt — Dorfbewohner mit kupferfarbener Haut und dunklem Haar, die tanzen oder sich ausruhen und jagen. Ein Hund hat sich neben (hinter?) einer seltsamen Gestalt zusammengerollt, die in Tierhaut gekleidet ist, eine Schnabelmaske trägt und etwas, das wie ein gefiederter Umhang oder wie Flügel aussieht. Alles steht still, wie
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