Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
Vom Netzwerk:
gebannt.
     
    »Diese Tiere auf den Höhlenmalereien«, sagt er, »kennen keine Zäune, keine Grenzen, keine Schranken, siehst du? Es ... es spielt keine Rolle, wohin sie rennen — Hauptsache, sie rennen!«
    Auf einer ockerfarbenen Skizze blickt eine Antilope über die Schulter zurück, die Nüstern geweitet, sie sieht und riecht, wie sich der goldene Tod auf sie stürzt. Die Zähne der Löwin berühren ihren Nacken, Klauen schlagen sich in ihre Schultern.
    »Sie haben keinen Boden unter den Füßen, siehst du, nirgendwo ein Rahmen oder Morast ... nirgendwo Zäune, die sie einsperrten. Und dort, wo sich die beiden Bisons überlappen ...«
    »Klar, wahrscheinlich ist dem Künstler einfach der Platz ausgegangen, Tommy, mein Junge.«
    »Nein. Nein, es ist mehr als das. Es ist, als gäbe es überhaupt keinen Raum.«
     
    Es ist ein trockener, heißer Tag in der Savanne — die Sonne nimmt der Welt jede Farbe — und ein Löwe schleicht langsam durch das hohe Gras. Einem schlanken Bock zucken die Nüstern, als er die Witterung des Raubtiers aufnimmt, und er blickt dich an, blinzelt mit langen Wimpern über tiefschwarzen Augen. Geier kreisen träge am Himmel. Alle sind hellwach, sich der Angespannung aufs Äußerste bewusst. Du schaust dich um und siehst eine Herde Auerochsen, die unter freiem Himmel weidet, und — wie gespenstische Umrisse über diese Vision von einer Steppe gelegt — Dorfbewohner mit kupferfarbener Haut und dunklem Haar, die tanzen oder sich ausruhen und jagen. Bei jeder Gruppe ist es das Gemeinschaftsgefühl, das ihnen Kraft gibt. Ein Hund hat sich neben (hinter?) einer seltsamen Gestalt zusammengerollt, die in Tierhaut gekleidet ist, eine Schnabelmaske trägt und etwas, das wie ein gefiederter Umhang oder wie Flügel aussieht. Sie wird der Schamane von Lascaux genannt.
    Weder von Rahmen noch vom Willen der Allgemeinheit gebunden, dreht die Gestalt sich um und tritt aus dem Augenblick heraus.
    Tassili n’Ajjer oder Lascaux, 1916 oder heute.
     
     
    Vergilbtes Papier und braune Bleistiftstriche
     
    »Tommy, mein Junge, manchmal redest du so viel Dreck wie ich zwischen meinen Zehen habe. Und die halbe Zeit weiß ich nicht, was du von mir willst.«
    Seamus betrachtet das kleine Skizzenbuch, das dem Jungen mehr bedeutet als alles andere — mehr als irgendetwas irgendeinem von ihnen bedeutet, denkt er manchmal, sogar mehr als all die zerfledderten, zerknitterten Photographien von Geliebten und Müttern, mehr als die Medaillons, die Uhren der Väter, die Spielkarten mit den nackten Mädchen darauf und all das. Er hält den Jungen für einfältig, das sicherlich, aber irgendwie kann er ihn auch verstehen. Seamus betrachtet die Zeichnungen, auf die der Junge so viel Zeit verwendet hat, so viel Sorgfalt, letzten Monat in Lascaux, als er Ausgang hatte und mit den anderen hätte herumhuren können, einen draufmachen, wie es sich für einen Jungen in seinem Alter gehört, der in dieser Scheiße festsitzt und für König und Vaterland anderer Leute kämpft. Und alles, was Seamus sieht, wenn er das Skizzenbuch betrachtet, ist vergilbtes Papier und braune Bleistiftstriche. Tommy dagegen ...
     
    Tommy streckt die Hand aus und nimmt ihm das Buch wieder weg, schüttelt den Kopf.
    »Ach, du bist ein seelenloser Kerl, Seamus.«
    Aber der Junge wird schamrot, während er versucht, das altbekannte Spiel junger Burschen zu spielen, klar doch, wie sie mit Schimpfwörtern um sich werfen, aber mit Schalk in den Augen und einem leichten Stoß mit dem Ellbogen, denn, na ja, du weißt doch, so mein ich das gar nicht. So richtig kriegt der Junge das allerdings nicht hin — er ist zu schüchtern und zu sehr ein junger Herr, obwohl er nicht unbedingt mit einem Silberlöffel im Maul geboren wurde, und er spielt auch nicht Graf Rotz. Er ist einfach ... ach, er ist eben ein braver Junge, der seine Mutter und sein Zuhause vermisst wie die anderen auch, nur zeigt er es mehr. Ach, und die anderen Burschen des Bataillons ziehen ihn manchmal ganz ordentlich auf, wie zu Hause auch, und was täte er, wenn Seamus nicht immer zu ihm halten würde?
     
    Seamus schlendert zum Eingang des Unterstands hinüber, von wo man — außer Matsch und Matsch und gottverdammtem Matsch — immerhin andeutungsweise blauen Himmel sehen kann; jedenfalls wenn man sich etwas bückt und im richtigen Winkel nach oben schaut. Wegen der scheißniedrigen Decke kann man sowieso kaum stehen. Er greift in die Innentasche seiner Jacke, um eine Zigarette aus der

Weitere Kostenlose Bücher