Vellum: Roman (German Edition)
versprochen, dass ich auf dich aufpasse?«
Seamus hält den armen Burschen fest in den Armen und redet einfach immer weiter auf ihn ein, redet und redet und schaukelt ihn wie eine Mutter ihren Säugling, und das ist nicht männlich, verdammte Scheiße, und es ist nicht tapfer und unsere verdammten Jungs schwingen sich auch nicht auf die verdammten Pferde mit ihren verdammten Säbeln, die in der Sonne blitzen, um die Hunnen niederzustrecken, von verdammtem Heldenmut erfüllt — ach, scheiß drauf, scheiß auf diesen ganzen Scheiß, scheiß auf diese ganzen Scheißkerle, die einem erzählen wollen, so sei es eben, Herrgott, könnte er sich doch auch nur ordentlich ausheulen, in einer Ecke zusammenrollen und den ganzen Scheiß vergessen, aber das kann er nicht, er kann es nicht, er kann es nicht ...
»Herrgott, Tommy, alles in Ordnung. Hab keine Angst, mein Junge. Ich werd dafür sorgen, dass du heil nach Hause kommst, und wenn es mich umbringt.«
Tassili n’Ajjer oder Lascaux, die Somme 1916 oder —
RUMMS!
»Verdammt, Bursche! Hab ich dir nicht gesagt, keinen Ton? Verfluchte Kaffer!«
Kenia. Ganz gleich, welches Jahr.
Der Jäger wirft dem Eingeborenenjungen — dem Eingeborenenjungen? — die Büchse zu, von der Seite, damit der Junge sie fangen kann, aber mit der ganzen Heftigkeit seiner Enttäuschung, sodass der Junge zurückzuckt und nach hinten taumelt, bevor er sie richtig zu fassen bekommt. Er schaut den Burschen nicht einmal an, sondern beißt sich auf die Unterlippe und blickt wütend über das hohe Gras hinweg.
»Laden.«
Mit rotem Gesicht rückt der große weiße Jäger den sandfarbenen Hut zurecht, den er trägt, und hält die Hand an die Krempe, um seine Augen vor der Savannensonne zu beschirmen. Er ist ein guter Schütze und er hätte getroffen, wäre da nicht dieser verdammte Eingeborenenjunge gewesen. Und die verdammte Sonne. Die verdammte Sonne ist auch keine Hilfe.
Und die Gazelle springt mit weiten Sätzen durchs hohe Gras davon, in anmutigen Sprüngen, von der Sonne gerettet, fort, fort, fort.
Mad Jack Carter
Die Somme.
»Das ist gut, mein Junge. Verdammt gut.«
Thomas zuckt zusammen, erschrocken, lässt das Skizzenbuch fallen, greift nach dem Bleistift, will das Skizzenbuch aufheben, hält inne, steckt den Bleistift ein, richtet sich auf und salutiert — so viele Dinge auf einmal, dass er nichts richtig macht.
»Sir«, sagt er.
»Rühren, Messenger«, sagt Hauptmann Carter.
Er lächelt Thomas einen Augenblick lang mit einer irgendwie belustigten Überheblichkeit an, doch das Lächeln verschwindet sofort wieder, er schaut weg, schaut wieder hin, das Kinn jetzt vorgeschoben, sein Blick so durchdringend, dass Thomas zu Boden sieht.
Carter geht in die Hocke, um das Skizzenbuch aufzuheben, blättert es durch bis zu der Seite mit Thomas’ Zeichnung. Von dort unten schaut er zu ihm auf — blaue Augen, in denen ein durchdringendes Feuer lodert. Thomas fühlt sich unwohl, verletzlich.
»Der Heilige Sebastian, nicht wahr? Von Mantegna?«, fragt Carter und steht mit dem Buch in den Händen auf, betrachtet das Bild einen Moment lang, bevor er es zurückgibt. Auf der vergilbten Seite bilden die braunen Bleistiftstriche den Märtyrer in klassischer Kontrapostpose ab, sinnlich verschmilzt die Linie einer herabgezogenen Schulter mit einer ihr entgegengebogenen Hüfte, das Gesicht ist zur Seite hin erhoben, die Arme hinter seinem Rücken an eine korinthische Säule gebunden, die weiche, schattierte Haut von Pfeilen durchbohrt. Thomas nimmt das Buch entgegen, nickt schweigend. Carter lässt es los, und Thomas schließt das Buch.
»Sie haben ihn erkannt?«
So verlegen er ist, freut sich Thomas doch über das Kompliment — schließlich hat er nach der Erinnerung gearbeitet und er ist überrascht, dass der Hauptmann das Bild gleich zuordnen konnte.
»Ein wenig kenne ich mich mit Kunst aus«, sagt Carter. »Wie hat sich Mantegna ausgedrückt? ›Die Arbeiten der Alten waren schöner und hatten vollkommenere Formen, als man sie in der Natur finden könnte.‹«
Natürlich. Mad Jack Carter ist berüchtigt für seine Leidenschaft für die Alten.
»Ich bin nicht sicher, ob ich dem zustimmen kann, Sir«, sagt Thomas und entspannt sich ein wenig. »Ich meine, nicht, dass er das nicht gesagt hätte, Sir, aber mit seiner Ansicht, meine ich. Ich bin nicht sicher, ob ich damit übereinstimme.«
Carter nickt. Er sieht sich geistesabwesend in dem Unterstand um, geht zu dem
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