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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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kleinen Rasierspiegel an der Wand hinüber, nimmt die Mütze ab, streicht sich das Haar zurück und setzt die Mütze wieder auf. Es könnte Eitelkeit gewesen sein, aber Thomas bemerkt, wie die Augen im Spiegel ihn mustern und nicht das Spiegelbild des Hauptmanns. Er schaut zum Eingang, aber von hier aus kann man nicht mal den Himmel sehen, nur die Sandsäcke und die Wand des Schützengrabens draußen.
    »Wollten ... wollten Sie noch etwas, Sir?«
    Carter dreht sich wieder zu ihm um, sieht ihn prüfend an, als suche er nach einer Schwachstelle, wie ein Raubtier, das seine Beute beobachtet.
    »Ich ... habe nur gehört, dass du etwas von der Rolle warst«, sagt er.
    Thomas beißt sich auf die Unterlippe.
    »Mir geht es wieder gut, Sir.«
    »Gut. Gut. Ich wollte nur sichergehen.«
     
    Eine Weile stehen sie schweigend da.
    »Weißt du«, sagt Carter. »Du hast wirklich ganz schön Talent.«
    Mit einem Kopfnicken deutet er auf das Skizzenbuch, das Thomas noch immer in der Hand hält.
    »Vielen Dank, Sir.«
    »Der Heilige Sebastian, was? Interessantes Motiv.«
    Thomas sagt nichts. Die Geschichte des christlichen Legionärs, der von seinem Kommandanten hingerichtet wird, weil er dessen Annäherungsversuche zurückgewiesen hat, handelt von Keuschheit und Tugend, aber im Laufe der Jahrhunderte wurde sie immer wieder in Bildern mit wollüstig gefesselten und verdrehten Körpern erzählt, erhaben in ihrer Unterwerfung, während Pfeile den ebenmäßigen und halbnackten Jüngling durchbohren. Unter all den verzückten sterbenden Heiligen ist Mantegnas Gegenstand entweder der vieldeutigste oder der eindeutigste. Und so sagt Thomas nichts.
    »Interessantes Motiv«, sagt Carter noch einmal und verlässt den Unterstand.
     
     
    Aus ferner Zeit
    »Mein Bruder«, sagt Geschtinanna, »ich flehe dich an, erzähle mir nicht solche Träume. Tammuz, erzähle mir nicht solche Träume. Die Binsen, die überall um dich herum emporschießen, ja, die Binsen, die überall dicht stehen, sind die Dämonen, die dich jagen und angreifen werden. Das zitternde Schilf mit einem Rohr ist unsere Mutter, die um dich trauert. O mein Bruder, und das Schilf mit zwei Rohren, das ebenso wie das andere geschnitten wird ... Tammuz, dieses Schilf sind wir beide. Erst einer, dann der andere werden wir in die Irre gehen.«
    Oxford, 1936
    Professor Samuel Hobbsbaum — Sam für seine Freunde — hält über der Olivetti inne, den Finger auf dem glatten, geschwungenen Wagenrücklaufhebel ... und schlägt dann völlig unvermittelt mit der Hand auf die Platte seines Mahagonischreibtisches, als eine scharfe Brise, Zugluft aus einem fernen Durchgang, an seinen Notizen zupft und ein Blatt emporwirbelt, einen Bruchteil einer Sekunde, bevor er es erwischt hätte. Fluchend schiebt er die Keilschriftzeichen und die hingekritzelten Fragmente von Übersetzungen zusammen und legt sie unter einen Briefbeschwerer, bevor er sich — noch immer im Sitzen — bückt, um das flüchtige Papier aufzuheben. Das Licht der Gaslampe an der Wand flackert in der Brise.
    In dem Wäldchen sind die Bäume, die um dich herum aufragen, die Ugallu, die in der Schafhürde über dich herfallen werden. Das Feuer, das in deinem heiligen Schrein gelöscht wird, bedeutet, dass die Schafhürde ein kaltes und leeres Haus werden wird. Wenn der Boden deines Butterfasses herausbricht, bedeutet das, dass die Ugallu dich fangen werden. Wenn dein Trinkbecher von seinem Pflock fällt, bedeutet das, dass du im Schlamm stürzen wirst, in den Schoß deiner Mutter. Und wenn dein Hirtenstab fort ist ... Tammuz, dann wird die Welt unter der Herrschaft der Ugallu veröden. Der Adler, der ein Lamm aus der Schafhürde raubt, ist der Ugallu, der deine Wange zerkratzt. Der Falke, der einen armen, auf dem Schilfzaun sitzenden Sperling fängt, ist der Ugallu, der über den Zaun springen wird, um dich zu fangen.
    Überall im Arbeitszimmer von Professor Samuel Hobbsbaum verstreut gibt es Dinge aus ferner Zeit, manche sind echt, manche Kopien, aus allen nur denkbaren Zeiten und Kulturen, in Regalen und Aktenschränken und überall dort, wo nur etwas Platz ist: Gipsreproduktionen von Alabastervasen, die mit rituellen Prozessionszierstreifen geschmückt sind; Siegelzylinder, die einst über weiche, feuchte Tontafeln gerollt wurden und ein Reliefbild zurückließen; eine Stele, auf der ein Ensi als Sieger über den Leichen seiner gefallenen Feinde steht, doppelt so groß wie sie; ein siegreicher Skorpionkönig auf einer

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