Vellum: Roman (German Edition)
zerknautschten Packung Gauloises zu holen — widerliches Scheißkraut, gottverdammtes, aber was soll ein Mann machen, wenn er seinen Vorrat aufgeraucht hat und der Quartiermeister so verlogen ist wie ein britischer Politiker, und er steckt sie sich gerade zwischen die Lippen —
RUMMS!
»Himmel Herrgott Sakrament!«
Tommy brüllt wie ein verdammter Säugling und es ist scheißdunkel, aber Seamus spürt den Dreck, der auf ihn niederprasselt, nur allzu deutlich.
»Himmel Herrgott Sakrament! Kruzitürken! Scheißhunnen, verfluchte!« Seamus liegt auf dem Boden, die Hände über dem Kopf — Herrgott, er hat nicht mal seinen Helm auf — und er weiß nicht mehr, wie er da hingekommen ist, aber er ist scheißglücklich darüber, das schon, und er bleibt jetzt erst mal, wo er ist, untertänigsten Dank, Ma’am, und ...
»Himmel. Tommy, ist mit dir alles in Ordnung? Dich hat’s nicht erwischt, oder doch?«
Der Junge hechelt wie ein Hund, schnappt nach Luft, als ertrinke er, verdammte Scheiße, hockt direkt neben Seamus’ Ellbogen, die Arme um die Knie geschlungen und die Zähne in den Hosenstoff verbissen, hechelt und heult wie ein krankes Tier; und als Seamus sein Knie berührt, zuckt er zusammen.
Er starrt Seamus an, als schaue er durch ihn hindurch, die Augen weit aufgerissen, sieht und riecht, wie sich der goldene Tod auf ihn stürzt.
Dumuzis Traum
Er erwachte aus seinem Traum, noch immer zitternd angesichts der Vision, rieb sich die Augen, von Entsetzen erfüllt. Dumuzi rief laut: Holt sie ... holt sie ... holt meine Schwester, Geschtinanna. Holt meine kleine Schwester, die weise Sängerin mit den vielen Liedern, die Schreiberin der Tafeln, die die Bedeutung der Wörter kennt, meine Schwester, die in Träumen lesen kann. Ich muss mit ihr sprechen, ihr meine Träume erzählen. Und so sprach er zu Geschtinanna von seinen Träumen und sagte:»Schwester, lass dir erzählen, was ich gesehen habe.
Ich sehe Binsen um mich herum emporschießen, dichte Binsen überall, aus meinen Träumen wachsen sie hervor. Ich sehe Schilf mit nur einem Rohr im Wind zittern, Schilf mit zwei Rohren, und erst das eine, dann das andere werden geschnitten. Dann bin ich in einem Wäldchen und um mich herum wachsen Bäume, wie die Furcht in mir wächst, gewaltige Schatten, die mich verschlingen. Ich sehe, wie Wasser über meinen heiligen Schrein gegossen wird; der Boden meines Butterfasses bricht heraus. Ich sehe, wie mein Trinkbecher von seinem Pflock fällt.
Ich suche überall, doch kann ich meinen Hirtenstab nicht finden. Ich kann ihn nirgendwo finden und ich kann nur zuschauen, wie ein Adler in die Schafhürde hinabstößt und ein armes Lamm raubt. Vor meinen Augen fängt ein Falke einen Sperling, der auf dem Schilfzaun sitzt. Schwester, ich kann deine Ziegen sehen, ihre Lapisbärte schleifen im Staub, deine Schafe scharren mit geborstenen Hufen auf der Erde.
Schwester, das Butterfass ist leer und keine Milch wird in den zersprungenen Becher gegossen. Dumuzi ist dahin; die Herde des Hirten ist wie Staub dem Wind anheimgegeben.
Der große weiße Jäger
RUMMS!
Thomas zittert, zuckt erneut zusammen, als der Zinnbecher vom Haken fällt — ein rostiger Nagel, in den Holzpfosten des Etagenbetts geklopft und nach oben gebogen —, als der Zinnbecher klappernd auf eine Dose Stiefelwichse auf seinem Tornister fällt. Er fährt zurück, robbt nach hinten an die Wand des Unterstands, mit dem Rücken zur Wand, an die groben Stützbalken mit den Rissen gepresst, aus denen jedes Mal der Dreck herausrieselt, wenn eine Granate einschlägt und —
RUMMS!
»Alles in Ordnung, mein Junge, komm schon, beruhige dich, sei still, wir sind hier bombensicher, klar doch, da kann Jerry machen, was er will, und — Herrgott Sakrament — Jesus Maria, vorhin hätte ich mir fast in die Hose geschissen, Mannomann, aber das ist schon in Ordnung, wir haben alle Angst, und wir wollen alle nur so schnell wie möglich weg von hier, meine Fresse — sei still, mein Junge, komm schon, hier, du hast deine Zeichnungen fallen lassen, hier — ja, Tommy, ich weiß, ich weiß, komm schon, mein Junge, jetzt nicht weinen, du bist kein kleines Kind mehr, still jetzt — psst — so ist es gut, so ist es gut, alles wird gut — pssssst — ich weiß, Tommy, ich weiß, wir sitzen hier in der Scheiße, klar doch, aber — ja, so ist es gut, so ist es gut, mein Junge ... komm jetzt, habe ich nicht deiner allerliebsten Schwester Anna
Weitere Kostenlose Bücher