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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Palette; eine eingerahmte Schwarzweißphotographie, ein Ausschnitt der Statue eines jugendlichen Königs, dessen weiches rundes Gesicht mit dem gelassenen Lächeln Hobbsbaum an die Kuroi und Buddhas weit späterer Bildhauerkunst erinnernt, und der die Baupläne eines Tempels oder Palastes in den Händen hält. Das Kalenderblatt an der Wand zeigt den Juli 1936 — veraltet, denn Sam hat es während der letzten Monate versäumt, ihn abzureißen. Alte Geschichte ist für ihn ebenso bedeutungsvoll wie gegenwärtige Ereignisse, vielleicht sogar noch mehr.
     
     
    Den Winden anheimgegeben
     
    Eine phönizische Elfenbeinschnitzerei mit goldener Gravur, auf der ein Junge — Adonis vielleicht oder von der Symbolik seines Mythos inspiriert — mit nacktem Oberkörper ausgestreckt daliegt, auf die Arme gestützt, den Kopf im Nacken, im Augenblick seines Todes, die Kehle dem Rachen eines Löwen dargeboten, das Tier über ihn gebeugt, fast wie ein Liebhaber, der ihn in Armen hält. Dies ist sein Lieblingsbild, es ist so vieldeutig, so sinnlich, fast erotisch in seiner Darstellung der Intimität zwischen Opfer und Mörder, Raubtier und Beute.
    Die Löwin ist eines der Tiere, deren Gestalt die Göttin Inanna annimmt, Dumuzis Gemahlin. Sie liefert ihn den Dämonen aus, die ihr aus der Unterwelt gefolgt sind, damit sie selbst freigelassen wird. Und doch liebt sie ihn. Noch während Inanna Dumuzi verstößt, übernimmt sie in seiner Geschichte die Rolle seiner Schwester Geschtinanna, sodass sie versuchen kann, ihn zu retten. Dumuzis Schwester und Schwager — Geschtinanna und der Sonnengott Schamasch — versuchen beide, ihn zu retten. Aber in den widersprüchlichen Darstellungen des Mythos ist Geschtinanna gleichzeitig auch Inanna, die ihn erst verstößt, und Schamasch könnte gut der namenlose Freund sein, der versucht, ihn zu retten, und der ihn schließlich verrät.
     
    »Tammuz, du siehst meine Ziegen, deren Lapisbärte im Staub schleifen. Mein Kopf wird durch die Luft wirbeln, mit wehendem Haar werde ich wehklagen. Du siehst meine Schafe mit geborstenen Hufen auf der Erde scharren. O Tammuz, Tränen werden meine Wangen furchen in Trauer um dich.«
    Und sie schaut ihn mit großen Augen an, blinzelt die Tränen fort, die ihr Herz erfüllen, und Phreedom Messenger greift über den Holztisch des Rasthauses hinweg nach der Hand ihres Bruders.
    Sie versteht es immer noch nicht. Wie Finnan denkt auch sie noch linear; sie glaubt noch immer, dies sei eine einfache Geschichte, die von ihnen dreien handelt, sie alle von der Berührung mit der Ewigkeit verwandelt, von der Berührung mit dem Vellum, sie alle auf der Flucht vor Engeln und Dämonen, von Bundesstaat zu Bundesstaat, durch ganz Amerika. Sie glaubt, dass sich die beiden Krieg führenden Fraktionen der Unkin einfach gegenseitig aufreiben werden, wenn sie nur lange genug davonliefen, und dass sie eines Tages nur die Köpfe aus den Schützengräben heben mussten, in denen sie sich verstecken, und Metatron und sein Engelsbund würden verschwunden sein und alle anderen sich auf ewig gegen ihn erhoben haben.
    Aber Thomas ist bereits so lange unterwegs, er ist so oft zwischen der Wirklichkeit und dem Vellum hin und her gesprungen, dass er allmählich begreift, wie tief die Geschichte reicht. Sie glaubt, sie seien auf der Flucht vor dem Tod, doch er weiß, dass sie in der formbaren und vielseitigen Wirklichkeit des Vellum nicht fürchten müssen, einer vergänglichen Kleinigkeit wie dem Tod anheimzufallen, sondern dem Vergessen. Die Engel wollen eine Welt, die Bestand hat, eine Geschichte, über die Gewissheit besteht. In der Geschichte, die Metatron in sein kleines Buch des Lebens schreibt, haben einzelgängerische Unkin keinen Platz. Dieses oder nächstes Jahr, früher oder später, später oder früher, wird ihre Zukunft sie einholen. Sie müssen sich durchschlängeln, nach dieser und jener Seite, hinein und hinaus. Die ganze Ewigkeit. Oder nichts.
     
    Dumuzi in Sumer, für die Griechen Adonis und Adonai Tammuz in allen Stadtstaaten Phöniziens — all die sündigen Städte, die in der Bibel für ihre Dekadenz geschmäht werden, für ihren Luxus und ihre Laster. Damu, dumu-zi, Kind, leuchtendes Kind der Liebe, Thomas, der sich gnostische Evangelien greift, Zwilling des Christus, kleiner Bruder, Blutsverwandter, Ziegenleder der eine, Lammwolle der andere. Ach, wie die Frauen von Jerusalem um ihn geweint haben. Wie oft und an wie vielen Orten ist er gestorben und wiedergeboren

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