Vellum: Roman (German Edition)
worden, unter wie vielen Namen? Wie ein Zicklein, intonierten die neu Initiierten des Orpheus einst, bin ich in die Milch gefallen.
Jahrtausende lang vergessen, hätte Dumuzis Geschichte für immer verloren gehen können. In der Fassung der vergrabenen Keilschrifttafeln ist Dumuzi jedoch nicht tot gewesen, sondern nur verborgen, und Sam erzählt seine Geschichte neu, überträgt sie aus der Keilschrift in das römische Alphabet, mit schwarzer Tinte, die mittels der klappernden Tasten dem weißen Papier aufgeprägt wird. Dumuzis Schwester kann ihn nicht retten, weil sie eben auch seine Gemahlin ist, die ihn bereits der Hölle ausgeliefert hat, aber vielleicht gelingt es Sam, der seinen ausgegrabenen Text ans Tageslicht zurückholt, ihn für dieses moderne Zeitalter der Automobile und Größenwahnsinnigen übersetzt.
»Das Butterfass ist leer«, sagt Dumuzis Schwester, »und keine Milch wird in den zersprungenen Becher gegossen. Dumuzi ist dahin.«
»Die Schafhürde«, sagt er, »ist wie der Staub den Winden anheimgegeben.«
Und das Problem ist, denkt Sam, dass Dumuzis Geschichte selbst zersplittert ist, den Winden anheimgegeben. Seine Übersetzung ist — gezwungenermaßen — eine Rekonstruktion, er füllt die Lücken aus, wo der Ton gesprungen ist, versieht Wörter, für die es im Englischen keine Entsprechung gibt, mit Fußnoten. Sind die Ugallu ›Dämonen‹ oder ›Soldaten‹? In einer Fassung der Geschichte liefert Inanna ihnen ihren Geliebten aus, damit er ihren Platz in der Unterwelt einnimmt; in einer anderen Fassung ist er ein Wehrpflichtiger auf der Flucht. Vielleicht gibt es noch andere Fassungen, die in der Erde ruhen und darauf warten, ausgegraben zu werden. Und vielleicht findet sich der wahre Dumuzi in keiner einzigen Fassung, sondern irgendwo dazwischen, in den Übergängen.
Errata
Das Vellum
Talmud, Midrasch und die Pseudepigraphien der jüdischen Mythologie – und spätere Quellen – stimmen alle darin überein, dass es sieben Himmel gibt. Der höchste ist der Araboth; dort sitzen die Seelen der Rechtschaffenen vor dem Thron Gottes oder wandeln unter den Ophanim und Seraphim und schreiten durch den Morgentau, durch den dereinst die Toten zum Leben erweckt werden sollen. Darunter liegt der Himmel Makhon mit seinen fein gemeißelten Wasserteichen aus Stein, Windgemächern und Feuertoren. Wenn wir diese Tore hinter uns schließen, steigen wir in den Maon hinab, wo die barmherzigen Engel nächtens singen und tagsüber schweigen. Im Zebhul schreiten wir vielleicht durch die Straßen der Stadt Salem, wo der Fürst der Engel, Michael, im Tempel opfert, auf dem Altar dort. Und weiter abwärts geht es. Im Shekhakim mahlen die Mühlsteine, für die Frommen wird Manna gebacken. Im Raykia stehen Mond, Planeten und Sterne still wie Staubkörner im Sonnenschein. Doch die Sonne selbst ist im Villon zu Hause, im Vellum.
Ich halte es für eine interessante Übereinstimmung, dass in meiner billigen Taschenbuchausgabe der Mythen des alten Israel der Autor, Angelo S. Rappaport, einfach einen Alternativnamen angibt – Vellum –, und zwar in Klammern hinter dem traditionelleren, orthodoxeren ›Villon‹. Er enthält sich jeder Anmerkung dazu, jedes Hinweises, das eine Wort sei die Übersetzung des anderen, erwähnt es nur ganz beiläufig, während er diesen ersten und untersten Himmel andererseits als Schleier zwischen unserer Welt und der nächsten beschreibt, sodass die Wache haltenden Engel, die durch Fenster darin hindurchblicken, die Menschheit beobachten können, ohne selbst entdeckt zu werden. Unten auf der Erde folgen die Schafe ihren Hirten durch die Täler zu ihrer Herde, während die Blicke der Engel ihnen von ihren eigenen Tälern herab folgen, in den Falten des Villon – des Vellum – verborgen. Eine dünne Haut zwischen der Wirklichkeit und der Ewigkeit.
Draußen geht die Sonne unter, weit im Westen, weit zu meiner Linken, und ihr rotes Licht lodert auf den Terrakottafliesen der Dächer der Häuserreihen weit unter mir. Die Schornsteine und Türme der Stadt, an den Hängen aufgereiht, werfen ihre Schatten unfassbar groß aufwärts, dem Himmel entgegen wie die Zedern auf einem an der Küste gelegenen Berg. Vielleicht liegt unterhalb der Wolken sogar eine Küste, ich weiß es nicht; an Tagen wie diesem scheint der Große Graben der äußerste Rand des Kontinents zu sein, der sich im Meer der Kumuli und Tumuli verliert. Nur an klaren Tagen sieht man, wie weit
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