Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan

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ihren Kummer kennt.
    »Ilil«, schreit sie ihn an, als versuche sie, einen Loa dazu zu bewegen, sich seiner zu bemächtigen; als sei sie wütend, weil er ihr nicht antwortet. Und Papa Eli spürt, wie sich in ihm ein Geist regt, der ihr antworten will, und er ruft alle Orisha an, die er kennt, sie mögen ihm beistehen.

    Der Tempel des Gottes Ilil, Nippur.
    Lady Cypher fällt vor der Statue auf die Knie und wehklagt lauthals in einer Sprache, die weder dem Kauderwelsch ihrer infantilen Idiotie entspricht, noch dem Englischen oder Spanischen, Französischen oder Holländischen, zu dem es sich entwickelt hat, weder C#, noch Java, ObjArt oder einer der anderen Programmiersprachen, in denen sie geschrieben ist, auch nicht dem Maschinencode aus binären Bits, die ihren Körper und ihre Knochen ausmachen. Diese Sprache ist klarer, genauer als Mathematik, poetischer als die Lieder der Menschen. Es ist die Sprache, in der die Welt geschrieben ist.
    »O Vater Ilil, deine Tochter! Seht doch ...«
    Die Sprache bemächtigt sich der Sim, formt sie um zu — dein kostbares Silber für immer mit dem Staub der Unterwelt bedeckt — zu den Trümmern ihrer selbst, einem Tempel des Ilil — Tod und Verdammnis ausgeliefert — und während sie singt, vibriert die Statue — dein kostbares Lapislazuli zersplittert zusammen mit den Steinen des Steinarbeiters — und die Luft birst — Zedern für den Tischler spalten — singt Ninschubur, Inannas Sukkal, Phreedoms Avatar — ermordete Herrin des Himmels, heilige Priesterin der Erde im Kur getötet.
    Und das Lied brandet durch diese Unterwelt.

    Liverpool, England.
    »Denn es ist Gott, der es dir gebietet«, brüllt Pater Lyle und macht ein Kreuzzeichen über der Stirn des Mädchens. »Unser Herr Jesus Christus gebietet es dir! Gott Vater gebietet es dir! Gott Sohn gebietet es dir! Gott der Heilige Geist gebietet es dir!«
    Doch das Mädchen knurrt und spuckt noch immer.
    »Baalzebaal, Fürst aller Fürsten! Elial, Gott aller Götter!«
    »Das Heilige Kreuz gebietet es dir!«, schreit er über ihre blasphemischen Worte hinweg, über das Weinen ihrer Mutter und die Gebete ihres Vaters, und –
    »Elial! Fürst aller Fürsten!«
    »Der Glaube der heiligen Apostel Petrus und Paulus und aller anderen Heiligen gebieten es dir! Das Blut der Märtyrer gebietet es dir! Die Standhaftigkeit des Beichtvaters gebietet es dir! Die fromme Fürsprache aller Heiligen gebietet es dir!«
    »Fick dich!«
    »Die Heilkraft der Geheimnisse des christlichen Glaubens gebietet es dir!«
    Und er hält die Bibel über sie wie einen Ziegelstein, der gleich ihren Schädel zertrümmern wird, bietet die ganze Kraft seines Glaubens auf, spürt die Frömmigkeit in sich wie eine Macht, welche die Jahrhunderte überdauert hat.
    »Elial!«, schreit sie.
    Und seine Hände zittern, als er spürt, wie sich eine Macht, welche die Jahrtausende überdauert hat, in ihm regt.


    Gotteshäuser

    »Enlil Enlil Enlil Enlil ...«
    Der Museumsführer durchläuft die Programmschleife in den kubistischen Fragmenten der Sim wie eine Videokunstsimulation der alten Schule; Räume zersplittern, aus Kurven werden Winkel, die Sim konfiguriert sich um Ninschubur herum neu, verwandelt sich in Gestalt gewordenen Schall. In dieser Welt aus Information ist ihr Wehklagen etwas Greifbares, es bewegt sich durch sie hindurch, wie ein Aal aus Licht durch Wasser flimmert, eine Klapperschlange aus Feuer über Sand flackert, wirbelt Wogen brennenden, glänzenden Staubs auf. Eine VR besteht nicht nur aus Rastern und Texturen; diese Welt besteht aus Partikeln, virtuellen Modellen pseudoatomarer Strukturen und Verhaltensmuster. Sie ist grobkörniger als die Wirklichkeit, aber noch immer feiner als die raue Oberfläche von Papier oder klobiger Ton- und Steinmassen, die nur mit den Fingern bearbeiten wurden, mit einem Steinmeißel oder spitzem Schilfrohr. Wenn Wirklichkeit Information ist, die auf das Vellum geschriebene Welt, dann ist die VR das beste Medium, sie umzugestalten, wie auch für die Beschwörungen als Grundlage jeder Magie. Und Phreedoms Sim, die Codelady, Ninschubur, ist ein verdammt komplexer Zauber.

    Also. Irgendwo außerhalb der Zeit und nicht ganz in der Ewigkeit sitzt der ehemalige Herr der Unkin grübelnd auf seinem Thron, so starr wie Stein, so schweigsam wie die geborstene Statue in der Vitrine im Museum für Alte Geschichte in Bagdad — nur in diesem Götzenbild ist er in der wirklichen Welt präsent, in der endlichen