Vellum: Roman (German Edition)
zurückkehren. Aus der finsteren Stadt gibt es keine Heimkehr.«
Er wird ihr nicht helfen.
In einem dunklen Auge
»Er will mir nicht helfen«, murmelt Ninschubur bei sich, während die Sim von Enlils Tempel um sie herum in sich zusammenfällt und sie aus den Trümmern auf eine flache, gleichförmige Ebene hinaustritt; ihr Wehklagen hallt noch immer in den Wolken weit oben am Himmel wider. Sie lässt den Blick über die visuellen Metaphern des Cyberspace schweifen, gelassen wie eine Sphinx, als warte sie darauf, dass sich ihr eine andere Möglichkeit biete, doch in ihrem Innern läuft bereits eine andere Routine an. Phreedoms Plan B.
Und Ninschubur ging nach Ur zum Tempel von Sin. Die Zeit flimmert im Rhythmus des Surrens der Nadel und Phreedom flimmert mit ihr. In Gedanken ist sie wieder in dem Winnebago und streitet sich mit ihrem Bruder, während sie in den Trailer-Park von Slab City einfahren, weit draußen in der unerbittlichen Hitze der Mojave; während sie einen großen Bogen um einen mit Schrott überhäuften Stellplatz machen, wo sich ein Airstream auf Ziegelsteintürmen erhebt. Davor steht ein Mann, der einen ungewöhnlichen Stab in der Hand hält. Um ihn sind Kabel gewickelt und auf seiner Spitze ist eine Fernsehantenne angebracht. Sie starrt ihn durch das Fenster an, schweigend, während Tom ihr auf den Arm boxt. Völlig breit auf Peyote sitzt sie mit Tom und seinem neuen Freund, diesem verrückten, völlig verkorksten modernen Schamanen Finnan, am Feuer, während er ihnen wilde Geschichten über Götter und Engel erzählt, über Welten jenseits ihrer Welt. Sie wirft Steine gegen Finnans Airstream, verflucht ihn, will von ihm wissen, wohin ihr Bruder verschwunden ist. Sie betrachtet das sonderbare Mal auf seiner Hand und weiß, was es bedeutet. Sie verflucht einen Engel, der gekommen ist, um ihn zu holen, und mit dem er nicht kämpft, weil der Krieg, den sie vom Zaun brechen wollen, nicht der seine ist. Sie sitzt rittlings auf Finnan, nackte Haut an nackter Haut, erkennt ihn, erkennt sich, und als sie aufwacht, ist er fort. Sie ist allein.
Ninschubur spricht ein einziges Wort, und am Himmel breiten sich schwarze Wolken aus wie Öl auf Wasser — flüssige Nacht, die auf und ab wogt, hier und dort von winzigen Sternen durchbrochen. Hoch oben nimmt der Mond die Gestalt einer weißen Pupille an, die in einem dunklen Auge schwimmt. In den alten Mythen wurde der Gott des Mondes Sin genannt; aber wenn Ilil nur mehr ein brüchiges Fragment seines früheren Selbst ist, dann ist Sin nur noch ein Schatten. Aber die Götter und Göttinnen, die den Mond zu ihrem Zeichen erkoren haben, waren schon immer Geschöpfe der Schatten, in vernunft- und gegenstandslosen Träumen zu Hause und bei Tageslicht verloren wie Wasser, das durch die Finger rinnt. Wenn irgendjemand weiterleben kann, nachdem er in Vergessenheit geraten ist, dann ein Gott der Träume.
Sie hält ihren weinenden Bruder in den Armen, irgendwo in den Bergen. Sie spuckt dem Unkin ins Gesicht, während sich seine langen dünnen Finger um ihren Hals schließen. Sie steht schluchzend unter der Dusche, während das Wasser ihr über die Haut läuft, schreit Finnan an, in irgendeiner Kirche, weil er keine Antworten für sie hat – nichts, er streitet nichts ab, ermutigt sie nicht, lügt sie nicht an und sie weiß einfach, dass er es war, der den Engeln verraten hat, wo sich ihr Bruder versteckt, das erkennt sie an seinen niedergeschlagenen Augen, an dem schuldbewussten Blick. Sie rast auf dem Motorrad über die Autobahn, schneller und immer schneller, schlägt eine Tür hinter sich zu, schiebt einen Perlenvorhang beiseite. Sie hebt den Schleier von ihrem Gesicht. Sie beißt auf die Hand, die der Brujo ihr zwischen die Zähne gezwungen hat. Sie windet sich im Griff des Exorzisten. Sie schreit, während die Richter der Unterwelt über sie herfallen, ihr die Klauen in den Leib schlagen wie die Nadel eines Tätowierers, ihr die Haut herunterreißen, ihr den Namen rauben, ihr Selbst.
Ninschubur ging nach Ur zum Tempel von Sin und betrat den heiligen Schrein.
Eine Spinnwebcollage
Der Tempel des Sin verfügt über keine pseudowissenschaftliche Sim, die ihm Gestalt verleihen könnte. Hier gibt es keine virtuellen Wände, Böden oder Decken, keine flimmernden Lampen über gerendertem Verputz, keine Textur und keine Farbe. Aber was die Dimensionen betrifft, so ist der Raum, den der alte Mondgott bewohnt, viel weitläufiger, ein
Weitere Kostenlose Bücher