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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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Gestalt von Zeit und Raum. In Wirklichkeit liegt sein Tempel schon lange in Trümmern, ist in alle Winde zerstreut, die Steine, aus denen er einst gebaut wurde, entweder unter Jahrtausenden von Staub begraben, oder später für den Bau römischer Tempel oder arabischer Moscheen verwendet. Nur im Vellum lebt er weiter. Die ganze Zivilisation, die er geschaffen hatte, war bis vor einem Jahrhundert völlig vergessen. Alle Götter haben ihre Häuser, doch die Häuser stürzen irgendwann ein, und wenn das geschieht, bleibt den Göttern nur noch die Geschichte als Heimstatt, sie leben in den Träumen der Archäologen fort, an den Rändern des kulturellen Gedächtnisses, im Vellum. Doch nun, während die Beschwörung in einem ganz anderen Gedächtnis widerhallt, erinnert sich Enlil daran, wie es ist, verehrt und mit Gebeten angerufen zu werden.
     
    Einst war er der Vater der Götter. Einst war er ein König, damals, in jenen Tagen, bevor die Stadt, die unter seinem wachsamen Auge erbaut wurde, ihre Macht so weit ausdehnte, dass sie mit Gebieten in Berührung kam, die ebenso von Königen regiert wurden, und er begriff, dass er nicht allein war. Er war ein König, damals, als man unter einer Stadt ein Dorf verstand, dessen Hütten tatsächlich von Dauer waren, und als es von den Unkin erst so wenige gab, dass manche heranwachsen, ein Reich regieren und viele hundert Jahre später sterben konnten, ohne erfahren zu haben, dass es noch mehr ihresgleichen gab. Noch während aus den Dörfern Städte wurden und aus den Städten Völker, noch während er entdeckte, dass es zahlreiche andere Könige gab, fand er heraus, dass er trotzdem weit mächtiger war als sie, ein König unter Königen. Als sein Körper schließlich starb, hatte er bereits das Gefäß vorbereitet.
    Der Cant war ihm bereits so vertraut, dass er wusste, wie er seine Prägung auf etwas anderes übertragen, ihm einen kleinen Teil seiner selbst einhauchen konnte, damit es für ihn sprach. Die Handwerker, die seinen Anweisungen folgten, fertigten im Grunde nur eine größere Version der Tonfigurinen an, die alle seine Lugal bei sich trugen, und die sie Schabtis nannten — Beantworter. Doch während er an seiner Krücke um die Statue herumhumpelte und seinen Gesang herunterleierte, die mitschwingende Frequenz des Steines aufspürte und im hallenden Raum des Tempels erklingen ließ, wusste er, dass er noch eine ganze Weile herrschen würde. Von Schabti zu Teraphim würde er seine Seele einem Gefäß nach dem anderen aufprägen, Gefäßen aus Stein, aus Ton, aus lebenden Körpern. Mit dieser Prägung konnte er Tausende von Gefäßen versehen, die alle gleichzeitig ihren Dienst versahen, halbautonom und trotzdem miteinander verbunden, trotz allem ein Teil von ihm. Tempel und Paläste, über die geflügelte Halbkaribu wachten, Statuen mit grimmigem Blick und schrecklicher Stimme, wenn sie seine Worte sprachen und sein Geist in ihnen wohnte. Aus gutem Grund stellten sich die Menschen Cherubim mit Flammenschwertern vor, die aus ihrem Mund kamen; Sprache war eine furchterregende Sache für diejenigen, die nicht über sie verfügten. Und er beherrschte die Sprache der Unkin besser als jeder andere.
    O ja, einst war er ein König. Einst war er der Vater der Götter. Vor Enki und seinem ›Konvent‹.
     
    »Was, glaubt sie, kann ich tun?«, fragt er die Kreatur, die vor ihm flackert, das halb unsichtbare Abbild eines Mädchens auf einem Botengang, ein kleiner Teil Inannas — ihre Sukkal —, zurückgelassen, um ihre Sache zu vertreten. Als ob ein gefallener und vergessener Gott ihr helfen könnte.
    »Du bist der Herr Ilil ...«, sagt Ninschubur.
    Doch dieser einstmalige Vater der Götter, langbärtiger Herrscher der himmlischen Heerscharen, kann in dieser Welt der Einen Wahren Götter nicht mehr Fuß fassen. Wie dieser Tempel ist auch seine Seele in alle Winde zerstreut. Sie lebt nur vereinzelt in Bruchstücken eines patriarchalischen Archetypus fort, in der tief verborgenen unterbewussten Seele mancher Menschen, im freundlichen Blick eines Brujo oder in der gestrengen Stimme eines Priesters. Ein neuer Gottvater ist angetreten, mit eigenen Tempeln und einer eigenen Geschichte, und Ilil ist nur noch eine Fußnote in seinem Text, ein Ziegelstein im Gemäuer des Hauses des neuen Herrn.
    »Meine Tochter hat es nach dem großen Himmel verlangt«, antwortet er mürrisch. »Inanna hat es nach der großen Erde verlangt, doch wer die Me aus Kur mit sich fortnimmt, kann nicht

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