Vellum: Roman (German Edition)
abstrakter Raum der Gegebenheiten und Beziehungen, die mit Einsen und Nullen definiert sind, ein Mosaik aus den Bitmaps eingescannter Schwarzweiß- und Farbfotografien, hundertwändige Lagerhäuser mit Tafeln von Texten und Übersetzungen, jeder Buchstabe einzeln eingegeben, mit Registern und Querverweisen. Sin lebt in einem Netzwerk aus Schlagwörtern und Autorennamen, aus katalogisierten Museumslagerräumen, in Dateien abgelegten Beschreibungen von Kunstwerken und Expeditionen, in auf der ganzen Welt verteilten Servern. Das Haus des Sin ist eine Spinnwebcollage aus Information.
Ninschubur kann nicht vor sein Angesicht treten und mit ihm sprechen, aber sie kann ihn mittels komplexer Abfragen herbeirufen, mithilfe halbautonomer Suchprogramme, die überall auf der Welt zerstreut sind und flimmernde, flackernde Datensätze mitbringen, die sie dann verarbeitet. Sie sucht nach ihm wie ein Polizeipsychologe die Motive sucht, die sich in der Akte eines ungeklärten Falls verborgen halten, in den Berichten der Gerichtsmediziner und Augenzeugen, irgendwo zwischen den fragmentarischen Fakten. Und während sie das Profil erstellt, fährt sie mit ihrem Mantra fort.
»O Vater Ilil. Schweres Silber Zedernholz Tochter aus kostbarem Lapislazuli, getötete Herrin des Himmels, getötet in Kur, Steine für den Steinarbeiter, Holz für den Tischler, mit dem Staub von Kur bedeckt. O Vater Ilil ...«
Die Sim nimmt um sie herum Gestalt an.
Ein toter, luftloser Brocken aus Stein und ein stiller Ozean aus Staub, so silbern wie Asche, so still wie der Tod. Ewig durch den schwarzen Abgrund des Weltraums stürzend, spinnt Sins solides Siegel einen Tanz um die Welt, die so vielfarbig ist wie der Mond unwirtlich. Die Erde ist in ein Gewand aus blauem Meer und Himmel gehüllt, das mit dem Braun und Rot, Gelb und Grün von Erdreich und Laubwerk bestickt ist — ein prächtiges Fadengeflecht, der Pelz des Lebens; auf dem Gewand der Kontinente glitzern goldene Städte. Im Vergleich dazu wirkt der Mond nackt, nur in die Schatten gehüllt, die er auf sich selbst wirft.
Er tanzt nach dem Lied von Ninschubur.
Eine Spinnwebcollage, bestehend aus: der Stille des Vakuums zwischen den Sternen; dem statischen weißen Rauschen im Funkgerät eines Raumfahrers; der Weißglut der Sonne, scharf wie die Schatten auf seinem Anzug, und nirgendwo ein Lufthauch, der die Hitze mit sich nehmen könnte; einem Weg am Meer, das sich nachts leise kräuselt, für junge Liebende, die am Strand entlanggehen, eine Brücke zum Horizont; Gezeiten aus Nacht und Hormonen; dem eisgrauen Blick wilder Kojoten, die voll Inbrunst heulen; einem Flackern auf den Flügeln von Nachtfaltern, die durch die Luft flattern, dem lodernden Leuchtfeuer entgegen. Frauen menstruieren und Männer verwandeln sich in Wölfe; Sin zu Ehren fließt Blut. Sin — fließendes Mondlicht — scheint in der Dunkelheit.
Illusionen
Phreedom weiß noch gut, wie sie Bier aus dem Kühlschrank ihrer Eltern stibitzte, wie sie Finnan Yagé gestohlen, seine Tagebücher durchgeblättert hat, wenn er nicht da war, auf der Suche nach Antworten, die er ihr nicht geben wollte, wenn sie ihn fragte. Wer bist du? Wer bist du?
»Wer bin ich?«, murmelt sie, aber nur die summende Nadel antwortet ihr.
Geboren wurde sie als Phreedom Messenger in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts n. Chr., als Tochter von Aktivisten, deren politische Ansichten auf dem Absterben althergebrachter Ideale beruhten, irgendwo zwischen dem 11. September und Guantanamo Bay. Aufgewachsen ist sie mit Völkermord und Dschihad, mit tragbaren Computer- und Internetanschlüssen für alle und jeden, mit KI und VR, mit Männern in weißen Overalls und Schutzmasken, die Leichen aus U-Bahnwagen ziehen, die allgegenwärtige CNN-Apokalypse. Sie hat sich ihrem Bruder Thomas angeschlossen, seinem seltsamen Freund Finnan, hat ihnen zugehört, wenn sie bei Mondschein in der nächtlichen Wüste krauses Zeug redeten, und von Zeit zu Zeit warfen sie etwas ein, das sie innehalten ließ, und dann schauten die beiden sie an, als hätten sie ihre Anwesenheit gerade erst bemerkt.
Sie kifften, sie soffen, sie futterten Yagé und Peyote, bis die Wüste um sie herum eine Welt der Illusionen zu sein schien.
Lady Cypher legt die bildlichen Darstellungen des Sin aus wie Tarotkarten bei einer Séance, auf der Suche nach einem Sinn in dem ganzen Neben- und Miteinander. Enlil, Gott des Himmels und des Windeshauchs, Herr der Erlasse, die
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