Vellum: Roman (German Edition)
den Bolzen, der den Brustharnisch offen hält. Langsam schließt er sich um mich, weich und gepolstert wie die Finger eines Kindes, die sich um einen Baseball schließen, aber so stabil wie eine zusätzliche Reihe von Rippen. Die Stützriegel schwingen unter meinen Achselhöhlen hindurch und rasten über meinen Schultern ein, dort, wo sich das komprimierte Bündel aus Muskelkraft, Rechnerkapazität und Sauerstoffflaschen befindet und wo sich die Flügel über meinem Kopf ausziehen lassen. Noch sind sie gefaltet. Ich klappe die Brustplatte von oben herunter und klinke sie an meiner Taille fest – ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie in Form blitzender Brustmuskeln zu gestalten, wie die Rüstungen der alten Griechen und Römer oder der Engel auf den Bildern aus meiner Heimatwelt. Sie steht etwas von meiner Brust ab – was dem ganzen Außenskelett noch mehr das Aussehen eines Engels verleiht –, denn ich habe ein kleines Fach hineingebaut. Ich bücke mich, um das ›Buch‹ aufzuheben, schiebe es in die Öffnung auf der rechten Seite und lasse die Klappe einrasten. Mehr nehme ich nicht mit. Ich setze Schutzbrille und Sauerstoffmaske auf; ich habe keine Ahnung, was mich dort draußen unter dem blauen Himmel jenseits des Grabens erwartet – wahrscheinlich befinde ich mich bereits so weit unten, dass mich allein das Gewicht der Luft zerquetschen müsste, das auf mir lastet. Offenbar gelten die physikalischen Gesetze hier nur bedingt. Aber ich gehe kein Risiko ein.
Zu guter Letzt schlüpfe ich mit den Händen in die verkabelten und beweglichen Handschuhe, die an meinem Gürtel hängen, hake sie los, ziehe sie um die Handgelenke straff und überzeuge mich, dass alle Stecker und Stöpsel fest sitzen. Dann lege ich den Schalter an meinem Gürtel um, der diesem verrückten Apparat signalisiert, dass ich bereit bin. Die Bewegungen meiner Finger werden über lange Kabel hinauf zu meinen Schultern übertragen. Ich trete vor und breite die Arme aus – eine überflüssige Geste, aber ich kann nicht anders, und als ich die Finger spreize, die Handfläche nach unten, breiten sich über und hinter mir sechs Meter große Silberflügel aus, und ich spüre, wie sich die Luft unter ihnen regt, ich spüre es in den Fingern, und ich muss sie nur bewegen, und die Schwingen der Waldoflügel bewegen sich mit ihnen. Meine Füße heben sich vom Boden, ich trete gegen den Auslöser und alle Stricke fallen beiseite – und plötzlich erhebe ich mich in die Lüfte.
Und die Strazza Ce La Daedalii hallt von meinem Lachen wider, während ich in den Himmel über dem Vellum emporsteige – von meinem Lachen und dem Lachen aller wahnsinnigen Träumer aus dem Graben, dem Lachen all der gescheiterten Flieger, deren Namen ich nie erfahren werde, der Leonardos dieses Winkels der Welt. Ich hätte diese Gegend auch Strazza Ce La Icarii nennen können, nach all den Fehlschlägen, aber das wäre ein ... Mangel an Fingerspitzengefühl gewesen, der jeden Einzelnen von ihnen beleidigt hätte. Dädalus ist geflogen und all jene, die den alten Männern mit ihren Pfeifen ins Gesicht gelacht haben, auch.
Ihr Lachen hebt mich empor, ihr Freudengeschrei erfüllt die Luft unter meinen Flügeln. Mir ist gleichgültig, wer mir zuschaut – die Geister dieser verlassenen Welt oder die Engel aus ihren Fenstern im Himmel.
Ich fliege.
6
Die Passion eines jeden Thomas
Der gekreuzigte Hirte
Sie findet ihn schließlich in der Kirche – er sitzt auf einer Holzbank, eine Plastiktüte zwischen die Beine geklemmt. In der Tüte klirrt etwas, als er sein Gewicht verlagert. An diesem Ort hätte sie ihn zuallerletzt vermutet, aber wahrscheinlich ist er gerade deshalb hier. Er schaut sie von der Seite her an, beobachtet sie, während sie näher kommt, greift in die Tüte und holt eine Bierflasche heraus. Als er den Deckel an der Bank vor sich mit einem Knacken öffnet, wendet er den Blick von ihr ab. Aus einer Tür rechts hinter dem Altar tritt ein Priester und kommt auf sie zu; Finnan murmelt etwas vor sich hin, und der Geistliche bleibt stehen, dreht sich um und verschwindet wieder durch die Tür.
»Ich hätte nicht erwartet, dass du an diesen Mist glaubst«, sagt sie.
»Ich glaub auch nicht dran«, erwidert er. »Aber die Vorstellung ist nett, findest du nicht, Phree? Von Erlösung.«
»Früher hast du anders gesprochen.«
»Tatsächlich? Was hab ich denn gesagt?«
»Für meine verdammten Sünden sterb ich schon selbst, vielen Dank auch«,
Weitere Kostenlose Bücher