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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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erwidert sie und ahmt ihn dabei nach.
    »Jau«, sagt er. »Das werd ich wohl. Das klingt scheiße, wie du sprichst, weißt du das?«
    Sie lässt sich neben ihm auf der Bank nieder.
     
    Soweit sie sehen kann, ist er nicht verletzt, aber er ist blass und sieht krank aus. Eigentlich ist er fast weiß, und als sie die Hand hebt, um seine Wange zu berühren – er zuckt zusammen, schaut weg –, fühlt diese sich kalt an, wie Marmor.
    »Was ist mit dir passiert?«, fragt sie.
    »Ein Engel hat mir das Herz geklaut. Hat einfach reingelangt und es mit den Fingern rausgerissen. Ich konnte spüren, wie er meine Rohrleitungen neu verlegte. Er hat einfach Arterien an Venen und Venen an Arterien angeschlossen und alles wieder ordentlich miteinander verbunden. Nur die Pumpe fehlt. Tja, und jetzt muss ich in Gedanken unentwegt ein kleines Mantra aufsagen, damit das Blut weiter fließt. Und dabei geht eine Menge Wärme flöten. Ist dir das schon mal aufgefallen, wenn du gezaubert hast? Dafür gibt es glaube ich einen Fachbegriff ...«
    »Negative Entropie.«
    »Genau«, sagt er. »Damit sollte sich mal jemand näher beschäftigen, findest du nicht auch? Ich meine, vielleicht ist das gar keine Zauberei. Vielleicht gibt es für diesen ganzen Mist eine vernünftige Erklärung.«
    »Vielleicht«, sagt sie.
    »Das wäre doch nett, oder? Wir könnten tatsächlich etwas darüber erfahren, wie wir ticken, wenn diese ganzen Schwachköpfe nicht damit beschäftigt wären, Krieg zu spielen.«
    Er salutiert spöttisch.
    »Feldwebel Seamus Finnan meldet sich zum Dienst.«
     
    »Sieht so aus, als legten sie jetzt richtig los«, sagt er. »Sie lassen einem nicht mal mehr eine Wahl. Nee, entweder du stehst auf ihrer Seite, oder du stirbst. Aber einen Unkin zu töten, hat Folgen, verstehst du. Die Magie, auf die wir zugreifen, hat ihren Ursprung tief in der Wirklichkeit. Wenn man einen Faden durchtrennt, nur einen winzigen Faden ... Aber denen ist das egal. Scheiß drauf, sagen die sich. Lasst uns einfach die ganze Welt in Schutt und Asche legen und irgendwo von vorne anfangen.«
    Er nimmt noch einen Schluck.
    »Herrgott«, sagt er, » die leben noch in der verdammten Steinzeit. Erst die Felder abbrennen und dann neu aussäen.«
    Noch ein Schluck.
    »Aber sie mussten ihn doch nicht gleich umbringen. Das war doch nicht nötig. Einen Unkin zu töten – nee, das habe ich schon gesagt ...« Er wedelt mit dem Arm, sucht nach Worten. »... verursacht einen scheißgroßen Riss im Vellum. Auf dieser Welt gibt es Stellen, wo ... das Flickwerk nicht allzu fest ist. Tage, die wie Löcher sind.«
    Ich habe jede Menge solcher Tage, denkt sie.
    »Du weißt, was die Stimme eines Engels anrichten kann«, sagt er. »Stell dir vor, was erst los ist, wenn einer schreit!«
     
    Sie muss daran denken, wie sie mitten in der Nacht aufwachte und der Widerhall ihr in die Knochen fuhr. Sie bekam ihn nicht mehr aus dem Kopf, er klingt ihr noch immer in den Ohren. Die Schockwelle, die der Tod ihres Bruders auslöste.
    »Und jetzt willst du mich verdammt nochmal umbringen?«, fragt Finnan.
    Sie sieht ihn an, wie er dasitzt, ein Bild des Jammers, und sie schüttelt ohne nachzudenken den Kopf. Das bringt sie nicht übers Herz. Hätte sie mehr als nur diesen Wortfetzen gewusst, diese eine Silbe eines Ortsnamens, die Thomas ihr aufgezwungen hat, bevor sie ihm das Wort abschneiden konnte – hätte sie mehr als nur ›Ash-‹ gewusst, hätten ihr die Engel auch das entrissen, dessen ist sie sich sicher. Ashton? Ashbury? Sie weiß nicht genug, Finnan offenbar schon. Sie merkt das an der Art und Weise, wie er den Blick abwendet. Er hält ihn gesenkt, schaut beiseite – überall hin, nur nicht zu ihr.
    »Nein«, sagt sie. »Ich will nur wissen ...«
    Sie weiß nicht mehr, was sie wissen möchte.
    Er blickt zum Kruzifix hinüber, deutet mit der Flasche darauf.
    »Glaubst du, er war einer von uns?«
     
     
    Eine Lumpenpuppe oder eine Vogelscheuche
     
    Sie kreuzigten Puck auf einem Feld vor der Stadt, in einer Oktobernacht im Gebirge, wo der kalte Wind die Temperaturen an den Gefrierpunkt brachte — natürlich errichteten sie kein echtes Kreuz, aber sie ließen ihn nackt an einem Stacheldrahtzaun hängen, banden die gebrochenen Arme mit Seilen fest, bevor sie ihn mit einem Gewehrkolben halbtot prügelten, ihm den Schädel einschlugen, ein blutiger Riss, der vom Hinterkopf bis vor sein rechtes Ohr verlief. Sie ließen ihn dort hängen, mit ausgebreiteten Armen gleich einem

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