Velten & Marcks - Mordfall Tina Hofer (German Edition)
Vielleicht erinnerte sich sein früherer Kollege ja noch an die Hintergründe des umstrittenen Bauprojekts. Er wollte eben Renate Knab bitten, die Termine zu vereinbaren, als sich die Tür öffnete und die Redaktionsassistentin das Büro betrat.
„Klarer Fall von Gedankenübertragung“, sagte er. „Eben wollte ich dich anrufen, um ...“ Er hielt erschrocken inne. Sie sah aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Velten und Katja sprangen gleichzeitig von ihren Stühlen auf und eilten auf die kreidebleiche Kollegin zu. Sie führten sie zur Besprechungsecke und setzten sie auf einen Stuhl. Katja schenkte ein Glas Wasser ein. Renate trank apathisch.
„Was ist denn los ?“, fragte Velten besorgt. „Brauchst du einen Arzt?“
„Es geht schon wieder“, murmelte sie. „Mir fehlt nichts. Es ist wegen der Pressemitteilung der Polizei, die eben ankam. Hast du sie schon gesehen?“
„Die PM über die unbekannte Tote. Ja, natürlich.“
„Sie ist keine Unbekannte“, sagte Renate. „Es ist Tina Hofer.“
Velten war einige Sekunden sprachlos: „ Die Tina Hofer?“
„Ich habe den Anhänger mit dem Schmetterling sofort erkannt. Sie hatte mir einmal erzählt, dass es nur zwei Exemplare davon gibt. Einen trug sie selbst, den anderen ihre Schwester. Ich erinnere mich genau. Und auch die bunte Armbanduhr mit dem Plastikgehäuse werde ich nie vergessen. Diese Marke war unglaublich modern in den neunziger Jahren. Alf Kuntz hatte ihr deswegen immer Vorhaltungen gemacht. Er meinte, mit so einem Ding am Arm könne man keine seriösen Interviews mit Politikern führen, höchstens mit Grundschülern oder Kegelvereinen.“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie schmerzhafte Gedanken vertreiben. „Das spielt ja alles keine Rolle. Wichtig ist nur, dass ich mir zu einhundert Prozent sicher bin, dass die Gegenstände ihr gehörten. Sie muss die Tote sein, die gestern beim Erdrutsch gefunden wurde.“
Tina Hofer war so etwas wie eine Legende unter den älteren Redakteuren des Morgenkurier . Sie war vor zwanzig Jahren von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Ihrer Schwester hatte sie in ihrem letzten Telefonat erzählt, dass sie am Abend einen wichtigen Informanten treffen wolle. Danach wurde die damals Sechsundzwanzigjährige nie wieder gesehen. Ihr Auto wurde zwei Tage später mitten in der Stadt auf einem Parkplatz gefunden, der Schlüssel steckte. Trotz zahlreicher Suchaktionen und obwohl der Kurier ihr Bild immer wieder veröffentlichte, blieb sie verschollen. Seit damals hing ihr Foto im Flur, in dem sich die Redaktionsbüros befanden, neben den Porträts der Verlagsgründer. Es würde erst von der Wand genommen werden, wenn Tina Hofers Schicksal geklärt war. Wenn Renate Knab recht hatte, könnte dieser Tag in greifbare Nähe gerückt sein.
„Vielleicht haben wir noch Bilder von ihr im Archiv“, meinte Katja. „Wenn wir eine Aufnahme finden würden, auf der die Uhr oder der Anhänger zu sehen ist ...“
Velten nickte ihr zu und sie setzte sich wieder an ihren Computer, um in der Datenbank zu suchen. Er blieb bei Renate, die sich langsam wieder zu fangen schien.
Sie starrte ins Leere. „Kannst du dich noch an sie erinnern? Sie war so ein nettes Ding. Und sie war Journalistin mit Leib und Seele.“
„Ich habe sie nie kennengelernt . In gewisser Weise bin ich ja sogar ihr Nachfolger, denn als ihre Stelle neu besetzt werden musste, habe ich mich auf die Ausschreibung beworben.“
„Stimmt, das hatte ich vergessen“, sagte Renate leise. „Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit.“
„Sie ist es!“, rief Katja und sah konzentriert auf den Bildschirm. Velten und Renate sprangen auf, um sich das Foto anzusehen, das ihre Kollegin entdeckt hatte. Auf ihrem Monitor hatte sie das Bild der Polizei mit dem Anhänger einer alten Aufnahme Tina Hofers gegenübergestellt. Das Archivfoto zeigte eine sympathische junge Frau mit rotblonden Haaren, einem Gesicht voller Sommersprossen und wachen grünen Augen. Sie trug eine Kette mit einem Anhänger, der identisch mit dem auf dem Polizeifoto zu sein schien.
„Kannst du das vergrößern?“, bat Velten und tippte auf Tinas Porträt.
Katja zoomte auf die Mitte des Porträts, bis der silberne Schmetterling die gesamte rechte Hälfte ihres Monitors ausfüllte. Es gab keinen Zweifel daran, dass er genauso aussah, wie der Anhänger, der bei der Toten gefunden wurde.
„Das ist eindeutig“, stellte Velten fest. Er schloss kurz die Augen und dachte darüber nach, was
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