Venedig sehen und stehlen
auf denen Fischkisten, Kühlschränke und Bauschutt transportiert wurden. Auf den Bootsstegen unter ihm schraubten Männer an ihren Außenbordern herum oder standen einfach nur da und rauchten. Das Zimmer gefiel Harry, abgesehen von dem großen Ölschinken über dem Bett. Er zeigte einen Sonnenuntergang über der Lagune. Zwischen Santa Maria della Salute und einer Gondel perlten dem Betrachter schockfarben ein paar letzte Sonnenstrahlen über das Wasser entgegen. Von den stilvollen Grandhotels, die Zoe und er sich immer vorgestellt hatten, war die »Pensione Rosa« eindeutig ein paar Klassen entfernt.
Harry wollte gleich etwas von der Stadt sehen. Seine Tasche ließ er erst mal unausgepackt. Er fischte sich nur ein Paar Shorts und ein T-Shirt heraus und zog sich kurz um. Auf dem Fußweg vom Arsenale-Anleger zur Pension war er in seinem Tweedjackett mächtig ins Schwitzen gekommen. Im Hochsommer in Venedig konnte man auf eines ganz sicher verzichten: schottische Tweedjacketts. In der Jackentasche fand er Zoes Foto: Zoe in Schwarz-Weiß vor dem Flatiron Building in Manhattan. Er hatte das Bild damals kurz nach seiner Ankunft in New York gemacht. Er steckte es wohl besser in seine Brieftasche.
Unter dem gestrengen Blick von Signora Rosa legte er den Schlüssel auf den Empfangstresen.
Draußen schlug ihm die Nachmittagshitze entgegen. An der Via Garibaldi trank Harry mit Blick auf die Piazzetta San Marco seinen ersten Cappuccino. Irgendwie schmeckte er hier eben doch anders als in New York. Dazu zündete er sich eine Chesterfield an.
Es war schon seltsam: Während seine Hippie-Mutter durch die ganze Welt getrampt war, um sich schließlich in einen indischen Ashram abzusetzen, hatte es Harry immer nach Italien gezogen, obwohl er nur einmal als Schüler und dann noch mal als Student in Rom gewesen war. Und jetzt war er in den USA gelandet.
In der Tabacchi-Bar wechselte er sich Gettoni zum Telefonieren und versuchte, vom dortigen Telefon Zoe anzurufen. Das Freizeichen war gegen die Geräusche eines Spielautomaten kaum zu hören. Zu Hause in Manhattan nahm niemand ab. Wo sollte Zoe gerade sein? Es musste in New York jetzt neun oder zehn Uhr morgens sein. Oder war er mit der Zeitrechnung durcheinandergekommen? Harry musste Zoe unbedingt erreichen. Er wählte die Nummer sicherheitshalber noch einmal. Er ließ es so lange klingeln, bis das Freizeichen abbrach. Dann erst legte er auf. Harry war beunruhigt, aber eigentlich auch sauer. Die schweren kupferfarbenen Gettoni mit den dicken Rillen fielen laut in das Geldfach zurück. Verdammt noch mal, wo war Zoe?
Damals hatte Zoe ihn erlöst aus seinem deutschen Leben, aus seiner unglücklichen Kindheit und Jugend. Nachdem seine ausgeflippte Mutter ihn in roten Klamotten Richtung Indien verlassen hatte, war er bei seiner Großmutter aufgewachsen und hatte erst richtig zu stottern begonnen. Als Gymnasiast bekam er schlimme Akne. Die Narben hatte er jetzt noch. Außerdem glaubte er, mit seiner großen fleischigen Nase beim Küssen eine ziemlich lächerliche Figur abzugeben. Aber so schrecklich viel zum Küssen war er als Jugendlicher sowieso nicht gekommen.
Später, als Student in der Malereiklasse an der Hamburger HFBK, war er dann neben seinen genialen Kommilitonen untergegangen. Als Künstler hatte er letztlich versagt. Und auch seine Karriere als Kunstdieb hatte alles andere als erfolgreich begonnen. Immerhin, die drei Nolde-Aquarelle waren seine Eintrittskarte nach New York gewesen. Sam Lieberman war begeistert von den Bildern und hatte bei einem dubiosen Sammler einen erstaunlich guten Preis erzielen können.
Sam war Mitte sechzig, wirkte aber mit seinem grauen Vollbart eher noch älter. Er hatte einen deutschen Akzent wie Billy Wilder und seine kleinen dunklen Augen waren stets hellwach. In der großen, etwas düsteren Wohnung betrieb er einen recht seltsamen Kunsthandel. Das war keine Galerie mit offiziellen Öffnungszeiten. Seine Kunden meldeten sich telefonisch an.
In den vorderen Räumen zur Straße hin, die mit schweren Vorhängen verhängt waren, standen hohe Regale mit antiquarischen Büchern und dazwischen zwei monströse Schubladenschränke für Zeichnungen. Sam handelte vor allem mit Grafik. Ein beträchtlicher Teil der Grafik war geklaut oder gefälscht. Die echten Klees oder auch neuere Blätter von Hockney und Rauschenberg gingen in den überquellenden Schubladen heillos mit den Fälschungen durcheinander. Sam tat so, als hätte dieser kleine
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