Venedig sehen und stehlen
aufspielten, indem sie Horvath in dilettantischem Deutsch auf die Bühne brachten, fand Harry ziemlich lächerlich. Später waren sie nach Coney Island gefahren oder hatten bei »Katz’s« in der Lower East Pastrami-Sandwiches gegessen.
Harrys New Yorker Zeit mit Zoe und seiner neuen Familie war wunderbar gewesen.
4
Harry ließ sich durch die Stadt treiben. Venedig war schwarz vor Touristen. Im Flugzeug hatte er nicht schlafen können vor lauter überdrehter Müdigkeit. Wie benommen taumelte er an Schaufenstern vorüber, in denen sich Figuren aus Muranoglas türmten. Aus allen Winkeln streckten ihm die venezianischen Masken ihre langen Nasen entgegen. Doch er musste sich nur wenige Straßen und Kanäle von der Hauptverkehrsachse zwischen Markusplatz und Rialtobrücke entfernen und schon waren die Japaner und Deutschen in ihren bunt geflammten Sportklamotten verschwunden.
Dem Guggenheim-Museum wollte er erst am nächsten Tag einen ersten Besuch abstatten. Dafür brauchte er einen kühlen Kopf. Und auch die Biennale-Pavillons in den Giardini musste er nicht gleich heute Nachmittag besichtigen.
Auf seinem Weg durch die Stadt sah er an Hauseingängen immer mal wieder das rote Biennale-Zeichen: »45. Esposizione Internationale d’Arte«. Es waren öffentliche Gebäude, ein Bezirksamt oder irgendein Institut der Universität, eine Kirche, aber auch Privathäuser, die sonst nicht zugänglich waren. Dort fanden jetzt über die ganze Stadt verteilt kleine Ausstellungen statt, die Teil der Biennale waren.
In einem dunklen, feuchten Kellerverlies lief auf fünf Monitoren eine Videoinstallation, in der es ebenfalls recht feucht zuging. Die Videos zeigten in statischen Einstellungen das Meer. Dazu tropfte aus einem an der Wand hängenden Plastiksack regelmäßig Wasser in einen Metalleimer. Das Tropfen hallte durch das ganze Kellergewölbe. Es roch nach Schimmel. Als Harry eine Weile vor einem der Monitore saß, wurde er von einer bleiernen Müdigkeit befallen, dass er fast eingeschlafen wäre. Auch der Museumswärter, wahrscheinlich ein Student, war auf seinem Stuhl zwischen Kellertreppe und Tür immer kurz vor dem Einnicken. Beim Verlassen des Kellers meinte Harry eine Ratte in den Ausstellungsraum huschen zu sehen.
»Und das soll Kunst sein?«, sagte ein älterer Mann in einem khakifarbenen Anzug kopfschüttelnd auf Deutsch zu seiner Frau und pfefferte empört die Ausstellungsbroschüre auf den Infotisch zurück.
Ein anderes Biennale-Schild führte ihn in einen der Palazzi am Canal Grande, ganz in der Nähe der Accademia. Das Gebäude war heruntergekommen, der Putz bröckelte stellenweise von den Wänden, die Reste von Blattgold auf dem Stuck waren nur noch zu erahnen. Aber schon der marmorne Treppenaufgang war großartig. Und der Blick aus den großen Räumen der ersten Etage auf den Canal Grande war wirklich grandios. Es gab einen kleinen Balkon. Darunter zogen die Gondolieri, Motorboote, mehrere Wassertaxis und ein Vaporetto vorüber. Im ersten Raum stand ein Ensemble angerosteter Stahlplatten. Als Harry über das knarzende Parkett den zweiten Salon betrat, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Plötzlich stand er vor einem Bild von Albrecht Ahlen, seinem ehemaligen Kommilitonen an der Hamburger HFBK, der schon zu Studienzeiten so etwas wie ein Star war.
Es war das einzige Objekt in diesem Raum, ein großes Wandbild mit abstrakten geklecksten Flächen in klaren Farben, darüber dunkle Schlangenlinien und über das gesamte Bild gekratzte Striche. Darunter lugten halb verdeckt mehrere Augen hervor und unten guckte ein Frauenbein heraus. Es waren eindeutig Einflüsse des abstrakten Expressionismus von Willem de Kooning oder Jackson Pollock zu erkennen, mit denen sich auch Harry in Amerika intensiver beschäftigt hatte. Aber das Bild hatte auch surrealistische Elemente. Harry war leider, das musste er sich eingestehen, beeindruckt.
Die Zeiten, als Albrecht Ahlen in den Achtzigern vor allem provozieren wollte, hatte er ganz offensichtlich überwunden. Damals hatte er mit seinem »Selbstporträt mit verschissener Unterhose und blauer Mauritius« sehr erfolgreich auf sich aufmerksam gemacht. Unter seinem neuen Wandgemälde stand nur schlicht »Untitled«.
Harry musste an eine Situation während ihres Studiums im Zeichensaal der Kunsthochschule denken. Beim Malen war Ahlen ein Bild von der Wand gerutscht. Mit seinem dicken Pinsel hatte er versucht, den Absturz der Kunst zu verhindern. Dabei entstand eine schartige
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