Venedig sehen und stehlen
Unterschied keine Bedeutung.
»Was sind schon meine paar falschen Kirchner-Holzdrucke und Kandinsky-Radierungen«, sagte Sam. »Erst erklärten die Nazis die gesamte Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts als entartet, dann nahmen sie sie ihren jüdischen Besitzern weg, um sie anschließend zu verscherbeln.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Und die Alten Meister haben ihre Schüler malen lassen und dann wie selbstverständlich ihren Namen daruntergesetzt. Was also, bitte schön, ist echt und was ist falsch?«
In einem noch dunkleren Hinterzimmer, mit Blick auf dieselbe Backsteinmauer, die auch Harry aus seinem Zimmer sah, waren Holz, Linol- und Kupferplatten gelagert, allerlei Chemikalien, Werkzeug und sogar eine wunderschöne alte Radierpresse. Eher zum Spaß kopierte Harry dort einen Schmidt-Rottluff und einen Heckel-Holzschnitt. Mit Expressionismus-Kopien hatte er schon in der Schulzeit seine Lehrer beeindruckt.
Auch Sam fand, dass es »handwerklich saubere Arbeiten« waren, wie er sich ausdrückte. Irgendwann führte er ihn dann in die Geheimnisse der künstlichen Öloxidation und Papieralterung ein. Er zeigte ihm, wie man mit Resten aus dem Kaffeefilter täuschend echte Stockflecken erzeugte, und brachte ihm bei, dass man bei der Patina des Guten nicht zu viel tun durfte. »Typischer Anfängerfehler«, brummte Sam. »Den Bildern fehlt im Gegensatz zu den alten Originalen dann die Frische.« Irgendwie hatte Harry das Gefühl, dass er Sams Vorstellungen von einem Schwiegersohn entsprach.
»Hannah, sieh dir das an, der Junge kann wirklich zeichnen«, sagte Sam zu seiner zehn Jahre älteren Schwester, die regelmäßig an den Wochenenden zum Essen kam.
»Aber wie kommt es, dass ich alles, was er zeichnet, schon mal irgendwo im Museum gesehen habe?«, gab Zoes Tante zurück, die Sams Leidenschaft für die Fälscherei überhaupt nicht teilte.
Es waren nur Zoe, ihr Vater Sam und dessen etwas schrullige ältere Schwester Hannah, aber mit ihnen erlebte Harry erstmals so etwas wie eine Familie. Sam kochte Fisch oder sie gingen um die Ecke in »Kolleks Restaurant« essen, wo es auf karierten Tischdecken echtes Pilsner und ungarisches Paprikagulasch mit Klößen gab. Tante Hannah trug eine altmodische Brille aus der Roosevelt-Ära, schwarz umrändert mit Fünfzigerjahre-Schwung nach oben. Sie rauchte Kette, immer mit einer kurzen Zigarettenspitze. Entsprechend klang ihre Stimme, männlicher als die des Bruders, aber mit demselben Billy-Wilder-Akzent.
Hannah Lieberman hatte Anfang der Dreißigerjahre noch eine Hutmacherlehre in einem der großen jüdischen Konfektionshäuser in Hamburg begonnen, bevor die Familie emigriert war. In New York hatte sie in den Fünfzigern einen gut gehenden Hutsalon am Broadway in South Central.
»Zu meiner Kundschaft gehörte Marlene Dietrich«, erzählte Hannah gerne und zog demonstrativ an ihrer Zigarettenspitze.
»Sie war einmal bei dir im Laden. Und hat sie überhaupt etwas gekauft?«, brummte Sam.
»Sie ist mit ihrer ganzen Entourage vorgefahren, einschließlich Liebhaberin. Und sie hat sich zwölf Hüte machen lassen.« Beleidigt paffte sie den Rauch über den Esstisch.
Hannah und Sam stritten ununterbrochen. Aber eigentlich liebten sie sich. Harry gefiel dieser raue Ton und die spröde Zärtlichkeit, die sich dahinter verbarg. Vor allem stritten sie über ihr Judentum.
»Mein lieber Sam, mach mir hier bitte nicht den Gläubigen! Wenn dieser Verbrecher Hitler nicht gewesen wäre, hätten wir beide doch gar nicht gemerkt, dass wir Juden sind. Fang bloß nicht noch an, koscher zu kochen. Ich würd gern mal einen vernünftigen Schweinsbraten essen. Als Kind in Deutschland hab ich so etwas nie gegessen, aber jetzt hätte ich mal Appetit darauf. Was isst man dazu, Harry? Sauerkraut?«
Harry zuckte die Achseln: »Keine Ahnung, ihr wisst doch, in Norddeutschland gibt’s nur Sauerfleisch in Gelee. Ich bin froh, dass ich das nicht mehr sehen muss.«
Harry mochte Sam und Hannah und er mochte sogar ihre gemeinsamen Mittagessen. Er konnte mit Hannah stundenlang über Hamburg reden, obwohl es nicht dieselbe Stadt war, die sie kannten. Sogar die Straßennamen hatten sich nach dem Krieg geändert.
Mit Zoe war er in die kleinen Hinterhoftheater in Soho und im East Village gepilgert. Hinter mit Graffiti vollgesprühten Stahltüren wurden die verrücktesten Stücke inszeniert, grandiose kleine Experimente, aber manchmal auch der letzte Mist. Theaterstudenten, die sich als Avantgarde
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