Venedig sehen und stehlen
das Publikum hatte keine Möglichkeit der Einflussnahme. Das Blinken und auch die Signaltöne hörten nach kurzer Zeit von selbst auf oder wurden wahrscheinlich von dem Bärtigen mit dem Bauhelm abgeschaltet. »Es geht um Intimität, den Moment des Erwischtwerdens«, hieß es auf dem Programmzettel. Na prima, dachte Harry, hoffentlich ging der Schuss nicht nach hinten los.
»Mir ist nicht gut. Ich muss mal verschwinden«, raunte Zoe Harry zu, sodass auch die näheren Umsitzenden es mitbekamen.
Dies war gewissermaßen der Startschuss zu ihrem Unternehmen. Er nickte ihr bestätigend zu, während sie ihren Platz verließ. Inzwischen war auch die Sopranistin abrupt verstummt. Doris und Britt sahen zu ihnen herüber.
»Sie muss irgendetwas Falsches gegessen haben«, sagte Harry. »Das geht schon seit Tagen so.«
Britt und Doris machten ein übertrieben besorgtes Gesicht.
»Das ist schon nicht so schlimm«, beruhigte er sie.
In Wahrheit wurde Harry immer nervöser, nachdem Zoe ihren Platz verlassen hatte. Auf einmal schrillten in ihm alle Alarmglocken. War das ganze Unternehmen nicht viel zu riskant? Ein Kunstraub war doch etwas ganz anderes als eine gemütliche Fälschung. Wären sie lieber dabei geblieben. In diesem Moment hätte er die ganze Aktion am liebsten rückgängig gemacht. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Miró-Coup lief und ließ sich nicht mehr stoppen.
Harry hatte genau vor Augen, was Zoe gerade machte. Sie musste sich jetzt in dem engen Damenklo eingeschlossen haben und in den unter dem Waschbecken deponierten schwarzen Overall steigen. Vor allem musste sie sich die Perücke mit den langen schwarzen Haaren über ihre blonde Kurzhaarfrisur ziehen. Und natürlich durfte sie auf keinen Fall die weißen Baumwollhandschuhe vergessen. Er konnte sich überhaupt nicht mehr auf die Performance konzentrieren. Er war mit seinen Gedanken voll bei Zoe.
In dem Moment drängelte sich Giovanni-Dieter mit gequältem Gesichtsausdruck durch seine Sitzreihe und entschwand in Richtung Herrenklo. Das war jetzt höchst unpassend. Harry wurde unruhig. In seinen Schläfen pochte es. Warum musste dieser Idiot ausgerechnet heute Abend Dünnpfiff bekommen? Hatten er es in Venedig denn nur mit Magenkranken zu tun?
Er wusste natürlich nicht, wie weit Zoe jetzt genau sein mochte. Hatte sie die Damentoilette schon verlassen? Er horchte nach verdächtigen Geräuschen aus den Nebenräumen. Doch außer dem Chor der Sirenen und Tröten, die durch Peggy Guggenheims Bibliothek schallten, war nichts zu hören. Die Sopranistin stand jetzt mit geschlossenen Augen immer noch stumm vor dem Auditorium. Auch Beat Burger und der Mann mit dem Herrenhandtäschchen, den wahrscheinlich seine Frau mitgeschleppt hatte, drohten einzunicken. Jetzt hatte sogar der Kamikazeflieger die Augen geschlossen. Verdammt noch mal, die Akustik-Avantgarde durfte jetzt auf keinen Fall wegdösen!
Doch der Typ mit Bauhelm und dem grimmigen Blick begann dafür umso geschäftiger, in seiner Werkzeugweste herumzukramen, verschiedenfarbige Kabel hin und her zustecken und an Verschlüssen zu schrauben.
Auf der Projektionsfläche war mittlerweile ein Video zu sehen, das den Blick in ein Aquarium freizugeben schien. Die Künstler hatten eine Videokamera in einer wasserdichten Plexiglasbox bei der Vaporetto-Station Accademia ins Wasser gleiten lassen. Aus der ungewohnten Perspektive knapp unter und im nächsten Moment wieder über der Wasseroberfläche hielt die Kamera im automatischen Aufnahmemodus den Schiffsverkehr auf dem Canal Grande fest. So waren zufällige Bilder vorbeifahrender Boote und dahindümpelnder Mülltüten entstanden, die das touristische Bild der Lagunenstadt verschwimmen ließen. Der Krach, den die Künstler währenddessen veranstalteten, zerstörte dann endgültig alle Venedig-Illusionen.
Während der Japaner seinem Benzinkanister mit einem riesigen Schraubenschlüssel ein paar beherzte Schläge versetzte, schlich Hans-Dieter mit Leidensmiene auf seinen Platz zurück. Zoe war ihm glücklicherweise nicht begegnet.
Harry starrte auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. Ohne Uhr hätte er jedes Zeitgefühl verloren. Aber jetzt musste Zoe langsam so weit sein. Hatte sie gerade den Miró in Arbeit? Achtete sie auch darauf, sich der Videokamera so zu zeigen, wie sie es besprochen hatten? Sie hatten einen präzisen Zeitplan ausgearbeitet, und er musste sich beherrschen, nicht aufzustehen, um nach ihr zu sehen.
Sein Gipsbein fühlte sich auf einmal gar
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