Venedig sehen und stehlen
nicht mehr so schwer an. Harry sah auf den Sekundenzeiger seiner Uhr, der sich unfassbar langsam bewegte. Er zwang sich sitzen zu bleiben. Zwei Minuten noch. War da jetzt nicht ein neuer Piepton zu hören, diesmal aber aus einem entfernt gelegenen Nebenraum?
Harry war sich ziemlich sicher, dass da plötzlich ein echter Alarmton zu hören war. Zoe hatte ganz offensichtlich den Miró von der Wand genommen. In Gedanken konnte er sie ganz genau vor sich sehen, wie sie in ihren schwarzen Klamotten mit der ein mal eineinhalb Meter messenden »Sitzenden Frau II« durch die fast unbeleuchteten Räume des Museums Richtung Damenklo schlich.
»Klingt erstaunlich echt, dieser Alarm!«, raunte der Österreicher mit den langen grauen Haaren. »Ganz erstaunlich.«
»Incredibile« , stöhnte Hans-Dieter und machte ein Gesicht, als würde es ihn schon wieder Richtung Herrentoilette ziehen. Bitte nicht jetzt, betete Harry.
Er horchte. Doris sah ihn an, freundlich, aber auch ein bisschen fragend. Das verdächtige Alarmsignal war nicht mehr auszumachen, denn jetzt setzten Posaune, Telefonklingeln und Sängerin wieder ein und übertönten alles andere. Harry bekam trotzdem ein flaues Gefühl im Magen.
»Soll ich mal nach deiner Zoe sehen?«, flüsterte Doris ihm zu.
Auf gar keinen Fall, dachte Harry. Das fehlte noch, dass Zoe mit ihrem Bild jetzt der freundlichen Psychotherapeutin über den Weg lief.
»Ich geh selbst mal«, zischelte er.
Er stand auf. Hans-Dieter warf ihm einen kurzen, ungnädigen Blick zu.
Mit seinem voluminösen Gipsbein humpelte er durch die Räume des Museums, durch West- und Ost-Korridor, vorbei an Chagalls »Regen«, an Fernand Légers »Studie einer Nackten« und Braques kubistischer »Schale mit Trauben« Richtung Damenklo. Die Wände lagen fast im Dunkeln. Nur das grüne Schild für den Fluchtweg über den Durchgängen warf spärliches Licht auf die Bilder. Trotzdem glaubte er, sie sehr genau sehen zu können.
Harry konnte sich nicht verkneifen, doch erst mal einen kurzen Blick in den Ostflügel zu werfen. Den Raum durfte er dabei nicht betreten. Sonst würde er von der Videokamera erfasst, die in ihrem Plan eine so wichtige Rolle spielte. Der Miró hing nicht mehr an seinem Platz. Der Platz neben Dalís »Flüssigen Begierden« von 1932 war leer. Harry meinte, einen dunklen Rand auf der Wand erkennen zu können. Es war gespenstisch. Durch das Fenster mit dem verschnörkelten, schmiedeeisernen Gitter glitzerten feierlich ein paar Lichter auf dem Kanal. Das echte Alarmsignal, das Zoe ausgelöst hatte, war außerhalb des Veranstaltungsraumes, von dem ein dumpfes Tuten herübertönte, sehr viel deutlicher zu hören. Hoffentlich bemerkte das in den nächsten Minuten niemand.
Mit wenigen Schritten stand Harry schließlich vor dem Damenklo.
»Zoe, it’s me« , flüsterte er gepresst.
»In a moment! « Harry hörte, wie sie auf der anderen Seite der Tür mit dem Rahmen hantierte.
Zoe öffnete die Toilettentür einen Spalt. Mit ihren schwarzen Sportklamotten und der Perücke sah sie wieder aus wie früher und doch irgendwie verkleidet. Die Leinwand mit der »Sitzenden Frau II« war noch auf dem inneren Keilrahmen. Aber den äußeren schlichten weißen Rahmen hatte sie bereits abgenommen. Zoe hatte die kleine Zange in der Hand, die sie vorher unter dem Waschbecken deponiert hatte.
»What about the alarm? Too loud?«
»Der piept so vor sich hin. Ist bisher keinem aufgefallen. Läuft alles nach Plan«, zischte er ihr durch den Türspalt zu. »Bekommst du das Bild so von dem Rahmen herunter oder müssen wir schneiden?«
»I will try« , flüsterte Zoe und wischte sich fahrig eine dunkle Strähne der Perücke aus dem Gesicht.
Als er Zoe so eifrig mit dem Werkzeug hantieren sah, hatte Harry auf einmal etwas Angst um den Miró. Jeder Schnitt, auch einer am Rand, beeinträchtigte den Wert des Bildes. Aber das Herausziehen der Reißnägel, mit denen die Leinwand auf dem Keilrahmen befestigt war, war möglicherweise zu aufwendig. Wie der Rahmen hinter der Leinwand beschaffen war, hatten sie vorher ja schlecht recherchieren können.
»Wenn das Ziehen der Nägel zu viel Zeit braucht, nimm das Teppichmesser. Aber lass bitte etwas von dem Bild übrig!«
»Very funny!«, raunte sie. »Darling, wir haben das genau besprochen. Ich bekomme das schon hin.«
»Ich muss mich um den Giacometti kümmern. Wir dürfen nicht beide so lange wegbleiben. Außerdem kann Giovanni jederzeit aufkreuzen. Der hat’s auch mit dem
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