Venezianische Versuchung
Sie war immer eine sehr verantwortungsbewusste Person.“
„Ich nehme an, dass sie bald zurückkommt, Euer Gnaden. Ihr gesamtes Gepäck ist noch hier. Also hat sie sich nicht heimlich aus dem Staub gemacht.“
„Welch ein Segen“, spottete Aston, strich die Seite glatt und begann zu lesen. Die Schrift der Gouvernante war genau so, wie er sie in Erinnerung hatte: klein und sehr ordentlich. Wenn die Auseinandersetzung in der vergangenen Nacht Miss Wood aufgeregt hatte, so verrieten die fein geschwungenen Buchstaben und die gleichmäßigen Zeilen ihrer Nachricht das jedenfalls nicht.
„Was zum Teufel soll das! Hier, Potter“, er hielt dem Sekretär das Schreiben hin, „lesen Sie und verraten Sie mir, was dieses Frauenzimmer vorhat.“
„Wie es aussieht, hat Miss Wood gekündigt“, stellte Potter fest, als er die wenigen Zeilen überflogen hatte. „Fristlos gekündigt, Euer Gnaden.“
Das hatte er schon selbst begriffen. Aber er wollte es einfach nicht glauben. „Unmöglich!“, verkündete er. „Ich werde es nicht zulassen.“
„Ich fürchte, Sie können es ihr nicht verbieten. Wenn Miss Wood nicht mehr für Sie arbeiten möchte, Euer Gnaden, hat sie das Recht zu gehen. Wie sie ganz richtig schreibt, benötigen Lady Mary und Lady Diana keine Gouvernante mehr. Ihre Aufgabe ist somit …“
„Ich weiß selbst, was sie schreibt! Verflucht!“ Aston warf den Brief auf den Tisch. Gestern, als er erfahren hatte, dass seine Töchter verheiratet waren, hatte er den Wunsch verspürt, Miss Wood für immer zu verbannen. Sie sollte es bloß nicht wagen, ihm je wieder unter die Augen zu treten! Oh, wie zornig er gewesen war! Doch dann hatte er die Briefe der Mädchen gelesen, und plötzlich war ihm alles in einem anderen Licht erschienen. Die Gouvernante stellte im Moment die zuverlässigste Verbindung zu Mary und Diana dar.
Vielleicht die einzige Verbindung …
Er betrachtete Miss Woods Unterschrift. Lange starrte er darauf, ohne wirklich etwas zu sehen.
Ihm fiel ein, wie sehr sie sich bemüht hatte, ihm die Neuigkeiten so schonend wie möglich beizubringen. Wie sie versucht hatte, ihm unnötigen Kummer zu ersparen. Himmel, nachdem er gelesen hatte, was seine Töchter schrieben, wusste er, dass Miss Wood getan hatte, was das Beste für die Mädchen war. Sie war immer eine loyale Angestellte gewesen, klug, verantwortungsvoll und mitfühlend. Wie lange hatte sie in seinem Dienst gestanden? Zehn Jahre? Genau wusste er es nicht. Es kam ihm vor, als sei sie immer da gewesen, als habe sie sich von Anfang an still und mustergültig um alles gekümmert, was Mary und Diana betraf. Sie hatte für die Kinder gesorgt, als seien es ihre eigenen. Mehr hatte er wahrhaftig nicht von ihr erwarten können. Tatsächlich war sie ihm eine große Hilfe gewesen. Aber hatte er ihr das jemals gesagt?
Er konnte sich nicht daran erinnern.
„Miss Wood ist noch jung, Euer Gnaden“, ließ sich jetzt Potter vernehmen. Er besaß das Talent, etwas Offensichtliches auszusprechen, als sei es eine neue Erkenntnis. „Sie wird eine andere Stellung finden. Wahrscheinlich ist sie deshalb unterwegs. Sie …“
„Ich weiß selbst, wie jung sie ist“, fiel Aston ihm ungeduldig ins Wort. Nur allzu deutlich sah er Miss Wood vor sich, wie sie in der letzten Nacht nur mit einem Nachthemd bekleidet vor seiner Tür gestanden hatte. Wie hätte er ihr offen über die Schultern fallendes Haar, ihre samtene Haut und ihre vor Aufregung funkelnden Augen vergessen können? Nie zuvor war sie ihm so jung und begehrenswert erschienen. Und das verwirrte ihn. „Ich brauche auch niemanden, der mir etwas über ihre Zukunftspläne erzählt!“
„Selbstverständlich nicht, Euer Gnaden.“
„Miss Woods Zukunftspläne, ha!“ Richard wandte sich dem Fenster zu. Er fühlte sich elend. Erst hatte er völlig unerwartet seine Töchter verloren. Und jetzt wollte auch die Gouvernante fortgehen. Nein, er war nicht bereit für einen weiteren Abschied für immer. „Ich begreife nicht, was Sie zu dieser Kündigung bewogen hat. Glaubt sie etwa, ich wolle sie loswerden? Als könnte ich sie in einem fremden Land einfach vor die Tür setzen wie eine Dirne, der man keine Achtung entgegenbringt!“
„Euer Gnaden.“
Beim Klang der weiblichen Stimme fuhr er herum. Miss Wood persönlich stand, die behandschuhten Hände ineinander verschlungen, neben Potter. Sie machte einen völlig ausgeglichenen Eindruck.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken. Verzeihen Sie, Euer Gnaden.
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