Venezianische Versuchung
größten Liebenswürdigkeit begegnen.“
Jane wollte sich nicht setzen. Das hätte bedeutet, dass sie länger bleiben musste, als sie beabsichtigte. „Ich fühle mich geehrt, von einem so vornehmen Herrn wie Ihnen als Freundin betrachtet zu werden.“
„Ich bitte Sie, Miss Wood!“ Er machte eine so überschwängliche Geste, dass der Ärmel seines Morgenmantels zurückfiel und ein sehniger Arm zum Vorschein kam. „Sie sprechen wie eine Engländerin. Ja, wie eine Frau, die das Unglück hatte, in einem Land aufzuwachsen, das von einem arroganten König regiert wird und in dem man Standesunterschieden eine viel zu große Bedeutung beimisst. Vergessen Sie nicht: Venedig ist eine Republik. Hier steht es mir frei, mich mit einem Gondoliere, einem Fischer oder einer englischen Gouvernante anzufreunden.“
Obwohl sie sich jahrelang darin geübt hatte, ihre Gefühle zu verbergen, konnte Jane nun einen Seufzer nicht unterdrücken. Sie würde Signor di Rossi vermissen. Sie hatte es als so anregend empfunden, sich mit ihm über die Gemälde zu unterhalten, die die Wände seines Palazzo schmückten. Seit Generationen hatten Mitglieder seiner Familie ihr Geld dazu verwendet, Kunstgegenstände zu kaufen. So war eine wertvolle Sammlung entstanden, über die der Signore viel Interessantes zu berichten wusste. Genau wie seine Vorfahren besaß er ein erstaunliches Kunstverständnis.
Jane hatte ihn durch ein Empfehlungsschreiben kennengelernt, das ihr und ihren Schützlingen ermöglichen sollte, einige der schönsten Gemälde Venedigs zu betrachten. Sie hatte erst daran gezweifelt, ob sie es überhaupt benutzen durfte, da Lady Mary und Lady Diana geheiratet hatten und sie ganz allein in die Lagunenstadt gekommen war. Es war ihre Liebe zur Kunst, die sie bewogen hatte, das Wagnis einzugehen und an die Tür des Palazzo zu klopfen. Als sie den Brief vorzeigte, hatte sie damit gerechnet, abgewiesen zu werden, denn schließlich war sie nur eine Bedienstete. Mit etwas Glück, so hatte sie gedacht, würde die Haushälterin oder einer der Diener sie kurz herumführen. Doch stattdessen hatte der Hausherr selbst sie willkommen geheißen, ihr ein paar wundervolle Meisterwerke gezeigt und sie aufgefordert, recht bald wiederzukommen.
Die Erinnerung zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Signor di Rossi hatte sie vom ersten Moment an wie eine Freundin behandelt. Nie war er unfreundlich gewesen. Nie hatte er sich herablassend über irgendetwas geäußert, das sie gesagt hatte. Im Gegenteil, er schien ihre Ansichten sehr zu schätzen. Nie zuvor hatte jemand ihr so aufmerksam zugehört. Es war also nicht erstaunlich, dass die Besuche bei ihm zu den Höhepunkten ihres Venedigaufenthalts gehörten.
Doch nun würden sie ein abruptes Ende finden.
„Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?“ Di Rossi, der aus Höflichkeit ebenfalls stehen geblieben war, eilte zur Tür, wo sich die Klingelschnur befand. Er wollte nach einem der Dienstboten läuten. „Ein bisschen Gebäck? Und natürlich etwas zu trinken. Kaffee? Heiße Schokolade? Oder vielleicht eine Tasse Tee, wie die Engländer ihn lieben?“
„Danke, nein, Signore.“ Eigentlich hätte Jane gern eine heiße Schokolade getrunken, denn die schmeckte ihrer Meinung nach in Venedig besser als irgendwo sonst auf der Welt. Aber ihr fehlte die Zeit. „Leider kann ich nicht bleiben.“
Er wandte sich zu ihr um und hob die dunklen Augenbrauen. „Ich verstehe nicht, Miss Wood. Sie haben mich aufgesucht, um mir mitzuteilen, dass Sie keine Zeit haben?“
„So ist es, Signore. Leider. Ich bin nur hier, um Ihnen Lebewohl zu sagen.“
Er schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht zulassen. Ich beabsichtige, Ihnen heute etwas ganz Besonderes zu zeigen. Es handelt sich um ein handgeschriebenes Buch. Vor etwa vierhundert Jahren wurde es von Mönchen in einem byzantinischen Kloster erschaffen. Die Malereien werden Ihnen den Atem rauben, Miss Wood. Nie habe ich etwas Schöneres gesehen. Ihnen wird es auch gefallen. Deshalb …“
„Verzeihen Sie, ich kann wirklich nicht bleiben.“ Sie musste ihm die Wahrheit sagen, so schwer es ihr auch fiel. „Mein Herr, der Duke of Aston, ist gestern in Venedig eingetroffen. Und er ist sehr unzufrieden mit mir. Daher habe ich mich entschlossen zu kündigen. Nun muss ich mich so schnell wie möglich nach einer neuen Stellung umsehen.“
„O nein, bitte, sprechen Sie nicht so! Ihre Worte erschrecken mich.“ Er eilte auf sie zu, so rasch, dass sein Morgenmantel
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