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Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)

Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)

Titel: Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kira Gembri
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Aufmerksamkeit zu schenken. Weil sie am Mittwoch bereits wieder auf eine
Stippvisite nach Schottland wollten, bestürmten sie mich am Wochenende geradezu
mit Fragen nach meinen neuen Lehrern und Mitschülern. Ich gab mir die größte
Mühe, mir genügend interessante Anekdoten aus den Fingern zu saugen, um ein
ganz bestimmtes Thema meiden zu können … oder eher einen ganzen Themenkomplex,
der Klopapier, Exfreundinnen und schmale, kalte Augen beinhaltete.
     
    Die
Professoren an der Galilei gehörten anscheinend zu jener irritierenden Sorte
von Lehrern, die sich als Wochenendbeschäftigung nichts Schöneres vorstellen
konnten, als über Schülerheften zu brüten: An meiner alten Schule hatte ich oft
wochenlang auf die Rückgabe einer Klausur warten müssen, doch Professor Scott
hatte bereits am Montag den Stoß korrigierter Aufsätze dabei. Sorglos lehnte
ich mich zurück, während die meisten anderen nervös auf ihren Sitzen
herumrutschten (wie Rasmus sich verhielt, konnte ich nicht sagen, weil ich es
standhaft vermied, in seine Richtung zu blicken). Meine Arbeit war gut
geworden, dessen war ich mir sicher. Ich hatte Hamlets Zögern unter einem
psychoanalytischen Blickwinkel interpretiert und den Geist des Vaters als
Metapher für das schlechte Gewissen des Prinzen entlarvt: Der Theorie über den
Ödipuskomplex zufolge hatte Hamlet seinen Vater als Rivalen im Kampf um die
Liebe der Mutter betrachtet. Die Verbrechen seines Onkels – den König zu töten
und die Königin zur Frau zu nehmen – erinnerten ihn an seine eignen
frevlerischen Wünsche, sodass er von seinen Schuldgefühlen lange daran
gehindert wurde, den Mord an seinem Vater zu rächen.
    Professor
Scott schritt zwischen den Bankreihen auf und ab, das Paket Hefte wie ein
Kellner sein Tablett auf einer Hand balancierend. „Einige von Ihnen“, sagte er
spöttisch, „hatten wohl Besseres zu tun, als ihre Zeit mit der Lektüre dieses
Dramas zu verbringen. Nur so lässt es sich erklären, dass mitunter felsenfest
behauptet wurde, nicht die Königin, sondern Hamlets Geliebte Ophelia habe Gift
getrunken. Bitte versuchen Sie sich zu merken: Shakespeare hat durchaus noch
andere Stücke geschrieben als Romeo and Juliet .“ Neben mir stöhnte Jinxy
auf; ganz offensichtlich hatte sie eine falsche Inhaltszusammenfassung in ihrem
BH versteckt gehabt.
    „Andere
wiederum“, fuhr der Englischlehrer fort, „haben mich mit ihren Leistungen
positiv überrascht – insbesondere eine Person, die sich im Unterricht bisher
nicht allzu sehr hervorgetan hat.“
    Ich
richtete mich ein wenig auf, als der Professor ein Heft aus dem Stapel zog. Es
stimmte, ich hatte mich in Englisch noch nicht oft zu Wort gemeldet; die
einschüchternde Art des Lehrers, gepaart mit meiner Angst zu erröten, hatte
mich davon abgehalten. Auch jetzt spürte ich, wie sich mein Gesicht erhitzte:
Womöglich würde mich Professor Scott bitten, meinen Aufsatz der Klasse
vorzulesen, und ich wusste nicht, ob ich eine solche Vorstellung ohne
Peinlichkeiten überstehen konnte. Trotzdem zwang ich ein höfliches Lächeln auf
meine Lippen, als der Lehrer sich meiner Bank mit den Worten näherte:
    „Herzlichen
Glückwunsch – Rasmus.“ Über meinen Kopf hinweg reichte er das Heft seinem
Besitzer. „Sie haben es geschafft, den Zwiespalt, in dem der Dänenprinz sich
befindet, auf meisterhafte Art und Weise zu analysieren. In Ihrer
Interpretation wird das berühmte Zitat ‚ To be or not to be‘ zur alles
entscheidenden Frage: Handeln oder nicht handeln? Und in welche Richtung soll
Hamlet gehen? Sie beschreiben gut nachvollziehbar, wie lähmend der Druck der
Entscheidung wirken kann, selbst wenn die Alternativen klar vor einem liegen.
Wie ist Ihnen das gelungen?“
    Rasmus
fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und ließ sie noch ein wenig zerzauster
zurück. Er schien kein bisschen verlegen oder stolz zu sein; der Ausdruck
seiner schmalen Augen wirkte geradezu gelangweilt.
    „Ich
schätze, ich kann mich einfach ganz gut in einen Narzissten des
elisabethanischen Theaters einfühlen“, gab er trocken zurück und schob das Heft
in seinen Rucksack, noch bevor Professor Scott ihn auffordern konnte, den Essay
vorzulesen.
    Nach
einem kurzen Achselzucken fuhr der Lehrer fort, die Aufsätze auszuteilen.
Jinxys Heft ließ er ohne Kommentar auf die Tischplatte klatschen, als
verströmte es einen unangenehmen Geruch; als er mir meines überreichte, sagte
er dazu:
    „Gut
gemacht, Lily. Aber bitte seien Sie sich das

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