Verbannt zwischen Schatten und Licht (German Edition)
als der Lehrer ihr einen wohlwollenden Blick
über die Schulter zuwarf.
„Hör
sofort auf damit!“, fauchte ich sie an. „Deinetwegen komme ich überhaupt nicht
mehr mit! Wenn der Prof. mich etwas fragt, werde ich mich total blamieren!“
„Wenn
du brav mitmachst, helfe ich dir gern“, wisperte Jinxy mit einem verschlagenen
Grinsen zurück. Schon wieder stand sie Habtacht, während Professor Humboldt
ihre Antwort an die Tafel schrieb, ohne auf das unerklärliche Gekicher in der
Klasse zu achten. Ich starrte verzweifelt auf das Zahlenchaos in meinem Heft
und gestand mir ein, dass ich keine Wahl hatte, sofern ich an diesem Schultag
keine weitere Niederlage riskieren wollte.
„Wenn’s
sein muss“, flüsterte ich ergeben, als Jinxy wieder unschuldig wie ein Lämmchen
auf ihrem Stuhl saß und der Lehrer einen Jungen für eine falsche Antwort
tadelte. Sobald er uns den Rücken zugekehrt hatte, stand ich zusammen mit Jinxy
auf. Ein leises Schaben verriet mir, dass meine liebe Freundin meinen Stuhl
verschoben hatte, damit ich mich danebensetzte. Ich drehte den Kopf, um
nachzusehen, da ließ mich die Stimme von Professor Humboldt herumfahren.
„Ja,
Lily? Brauchen Sie irgendetwas?“
Wie
ein Kaninchen die Schlange starrte ich ihn an. Jinxy, die längst auf ihrem
Stuhl saß, bebte vor unterdrücktem Lachen.
„Na
ja, ich muss …“, stotterte ich, und meine Ohren begannen zu glühen, als der
Lehrer die Augenbrauen hochzog. „Ich muss – mal.“
Hinter
mir prusteten einige los. Professor Humboldt sah mich missbilligend an. „Hätten
Sie das nicht in der Pause erledigen können?“
„Wirklich,
Lily, du hast ja wohl eine winzige Blase“, flüsterte Jinxy tief über ihr Heft
gebeugt.
„Natürlich.
Entschuldigen Sie“, antwortete ich verlegen.
„Nun
gehen Sie schon“, drängte der Professor, wedelte ungeduldig mit der Hand und
widmete sich wieder seiner Ableitung. So schnell es ging, huschte ich aus der
Klasse.
Als
ich auf den Flur hinaustrat, umfing mich sofort wieder die Kälte, die mich auch
heute Morgen in der Aula zum Frösteln gebracht hatte. Die Schule wirkte wie
ausgestorben; nur wenn ich direkt an einer Türe vorbeikam, drang die Stimme des
Lehrers als dumpfes Gemurmel zu mir heraus. Ich ging auf eine Fensternische zu,
lehnte die Stirn gegen die bunte Scheibe und atmete tief durch. Das Brennen in
meinen Wangen ließ allmählich nach, doch das änderte nichts daran, dass ich
innerlich noch immer vor Wut kochte. Diese dreimal verfluchte Jinxy! Hatte sie
es sich etwa zur Lebensaufgabe gemacht, mich so oft wie nur irgend möglich zu
blamieren? Wie sollte ich es an ihrer Seite durch die zwei Schuljahre schaffen,
die noch vor mir lagen?
Erst
als mein Zorn ein wenig abgeflaut war, gestand ich mir ein, dass ich meine
Schulzeit ohne Jinxy nur noch schwerer verkraften würde. Ich brauchte
sie, auch wenn ich ihre Vorstellung von einer amüsanten Unterrichtsstunde wohl
niemals teilen würde. Ohne meine beste Freundin war ich ein Nichts, ein blasses
Gespenst, das sich hinter dicken Büchern verbarg und mit dem Hintergrund
verschmolz: Im Grunde waren Jinxys Streiche und all ihre peinlichen Bemühungen,
mich mit irgendwelchen Jungen zu verkuppeln, nichts anderes als Versuche, mich
aus meinem Schattendasein herauszuholen.
Als
ich bei diesem Gedanken angekommen war, hatte sich meine Wut auf Jinxy bereits
restlos verflüchtigt. Ich trat vom Fenster zurück und sah mich etwas
unschlüssig um: Wenn meine Ausrede weiterhin glaubhaft wirken sollte, konnte
ich jetzt noch nicht in die Klasse zurückkehren. Weil ich ohnehin nichts
Besseres zu tun hatte – denn zu sehen gab es auf dem Flur rein gar nichts,
nicht einmal aufgehängte Schülerzeichnungen oder Schaukästen – beschloss ich,
mich tatsächlich auf die Suche nach den Toiletten zu machen. Es dauerte nicht
lange, bis ich eine Türe mit der verschnörkelten Aufschrift Damen gefunden
hatte; das kam mir für ein Schülerklo zwar im ersten Augenblick etwas seltsam
vor, doch als ich den Raum betrat, erkannte ich, dass das Türschild
ausgezeichnet dazu passte. Ebenso wie das restliche Gebäude machten auch die
Toiletten in der Galilei High School einen imposanten Eindruck: Die
Kloschüsseln waren gut zehn Zentimeter höher als anderswo, um die Spülung zu
betätigen, musste man an einer Kette ziehen, und die bronzenen Wasserhähne
waren altmodisch geschwungen. Außerdem war es natürlich eiskalt und ziemlich
ungemütlich.
Nachdem
ich noch einige Schlucke
Weitere Kostenlose Bücher