Verblendung
plötzlich, dass er heftiges Herzklopfen hatte. Er lehnte sich zurück und fummelte seine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche. Jemand hatte ein Foto gemacht. Aber wie sollte er diese Frau identifizieren? Wie sollte er an ihr Foto herankommen? War der Film überhaupt entwickelt worden, und wenn ja, wurde das Bild noch irgendwo aufbewahrt?
Mikael öffnete die Mappe mit den Bildern, die Nylund an jenem Festtag von der wimmelnden Menschenmenge gemacht hatte. In der folgenden Stunde vergrößerte er jedes Bild und suchte es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter ab. Erst auf dem allerletzten Foto fand er das Paar wieder. Nylund hatte noch einen Clown mit Luftballons in der Hand aufgenommen, der sein Dauerlachen in die Kamera hielt. Das Foto war auf dem Parkplatz vor dem Eingang zum Sportplatz gemacht worden, wo die Festlichkeiten weitergingen. Es musste vor zwei Uhr gewesen sein - danach war Nylund ja zum Unfall mit dem Tanklaster abkommandiert worden und hatte den »Tag des Kindes« nicht weiter verfolgt.
Die Frau war fast ganz verdeckt, aber der Mann im gestreiften Pullover war deutlich im Profil zu sehen. Er hatte Schlüssel in der Hand und beugte sich gerade vor, um eine Autotür zu öffnen. Der Clown stand im Vordergrund, und das Auto hinter ihm war ein wenig verschwommen. Das Nummernschild war nicht vollständig zu erkennen, aber es begann mit AC3…
Die Nummernschilder begannen in den sechziger Jahren mit den Kennbuchstaben des jeweiligen Verwaltungsbezirks, und Mikael hatte als Kind gelernt, die Herkunft von Autos anhand dieser Buchstaben zu identifizieren. AC war das Kennzeichen für Västerbotten.
Dann entdeckte Mikael noch etwas anderes. Auf der Heckscheibe war irgendein Aufkleber. Er zoomte den Ausschnitt heran, aber dabei verschwamm der Text. Er schnitt das Stück mit dem Aufkleber aus und begann Kontrast und Schärfe zu bearbeiten. Damit war er eine ganze Weile beschäftigt. Den Text konnte er immer noch nicht lesen, aber er versuchte, anhand der vagen Umrisse auf den jeweiligen Buchstaben zu schließen.
Viele Buchstaben sahen sich täuschend ähnlich. Ein O konnte man mit einem D verwechseln, ebenso B mit E und dergleichen mehr. Er hantierte mit Zettel und Stift und schloss verschiedene Buchstaben aus, bis er schließlich einen unverständlichen Text erhielt:
T S HLE I R JÖ
Er starrte die Zeile an, bis ihm die Augen tränten. Dann sah er plötzlich den richtigen Text vor sich. TISCHLEREI NORSJÖ, gefolgt von kleineren Zeichen, die man unmöglich entziffern konnte, die aber vermutlich eine Telefonnummer darstellten.
17. Kapitel
Mittwoch, 11. Juni - Samstag, 14. Juni
Beim dritten Puzzleteilchen bekam er Hilfe von unerwarteter Seite.
Nachdem er die ganze Nacht an den Bildern gearbeitet hatte, schlief Mikael tief und fest bis zum Mittag. Er erwachte mit einem diffusen Kopfschmerz, duschte und ging dann in Susannes Café frühstücken. Er hatte Schwierigkeiten, seine Gedanken zu ordnen. Eigentlich hätte er Henrik aufsuchen müssen, um ihm von seiner Entdeckung zu berichten. Stattdessen ging er zu Cecilia hinüber und klopfte. Er wollte sie fragen, was sie in Harriets Zimmer gemacht und warum sie gelogen und behauptet hatte, nie dort gewesen zu sein. Niemand öffnete.
Er wollte gerade wieder nach Hause gehen, da hörte er eine Stimme.
»Deine Hure ist nicht zu Hause.«
Gollum war aus seiner Höhle gekrochen. Er war groß, fast zwei Meter, aber vom Alter so gebeugt, dass seine Augen auf einer Höhe mit Mikaels waren. Seine Haut war vernarbt und voller dunkler Leberflecken. Er trug einen Pyjama und einen braunen Morgenrock und stützte sich auf einen Stock. Er sah aus wie die Hollywood-Version eines »bösen alten Manns«.
»Wie bitte?«
»Ich habe gesagt, deine Hure ist nicht zu Hause.«
Mikael ging so nahe an ihn heran, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
»Sie sprechen von Ihrer eigenen Tochter, Sie ungehobelter Kerl.«
»Ich bin nicht derjenige, der sich nachts hierherschleicht«, antwortete Harald Vanger und grinste zahnlos. Mikael ging an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blicks zu würdigen. Er ging zu Henrik Vanger und fand ihn im Arbeitszimmer.
»Ich habe gerade Ihren Bruder getroffen«, verkündete Mikael mit kaum verhohlener Wut.
»Harald? Ach so, hat er sich mal rausgewagt? Das macht er jedes Jahr ein paarmal.«
»Ich hatte bei Cecilia geklopft, als er plötzlich auftauchte. Er sagte, Zitat: Die Hure ist nicht zu Hause , Zitat Ende.«
»Klingt mir sehr nach
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