Verblendung
gehörte Alexandre Vangeersad, vier Gräber im Boden gehörten zu den frühesten Familienmitgliedern. Danach war die Familie Vanger anscheinend zur Feuerbestattung übergegangen. Ungefähr dreißig Nischen an der Wand trugen die Namen verschiedener Mitglieder des Clans. Mikael folgte der Familienchronik weiter in die Gegenwart und fragte sich, wo sie wohl die Familienmitglieder begruben, die keinen Platz in der Kapelle mehr fanden - vielleicht diejenigen, die man nicht als bedeutend genug betrachtete.
»So, jetzt wissen wir Bescheid«, sagte Mikael, als sie über die Brücke gingen. »Wir jagen einen wahrhaftigen Wahnsinnigen.«
»Wie meinst du das?«
Mikael blieb mitten auf der Brücke stehen und lehnte sich ans Geländer.
»Wenn es ein ganz gewöhnlicher Verrückter gewesen wäre, der versucht hat, uns Angst einzujagen, dann hätte er die Katze in die Garage oder in den Wald mitgenommen. Aber er hat sich für die Familienkapelle entschieden. Stell dir bloß mal vor, was für ein Risiko er da eingegangen ist. Es ist Sommer, die Leute gehen hier nachts tatsächlich spazieren. Der Weg über den Friedhof ist eine Verbindung zwischen Nord- und Süd-Hedeby. Selbst bei geschlossener Tür müssten die Geräusche der gequälten Katze und der Brandgeruch doch auffallen.«
»Er?«
»Ich glaube nicht, dass Cecilia Vanger hier nachts mit einer Lötlampe unterwegs ist.«
Lisbeth zuckte die Achseln.
»Ich traue keiner dieser Figuren in der Familie Vanger, inklusive Frode und deinem Henrik. Das ist ein Clan, der dich bei der erstbesten Gelegenheit über den Tisch zieht. Also, was machen wir jetzt?«
Sie schwiegen beide einen Moment. Dann musste Mikael fragen:
»Ich habe viele deiner Geheimnisse rausgekriegt. Wie viele wissen, dass du eine Hackerin bist?«
»Niemand.«
»Niemand außer mir, meinst du?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich will wissen, ob du mit mir klarkommst. Ob du mir vertraust.«
Sie sah ihn lange an. Schließlich zuckte sie wieder mit den Schultern.
»Dagegen kann ich nichts tun.«
»Vertraust du mir?«, wiederholte er.
»Bis auf Weiteres«, antwortete sie.
»Gut. Gehen wir zu Dirch Frode.«
Rechtsanwalt Frodes Frau, die Lisbeth zum ersten Mal zu Gesicht bekam, sah sie mit großen Augen an, während sie gleichzeitig höflich lächelte und sie in den Garten führte. Frodes Gesicht hellte sich auf, als er Lisbeth sah. Er stand auf und begrüßte sie freundlich.
»Schön, Sie wiederzusehen«, sagte er. »Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen, weil ich meine Dankbarkeit für die außerordentliche Arbeit, die Sie für uns geleistet haben, gar nicht so richtig zum Ausdruck gebracht habe. Sowohl letzten Winter als auch diesen Sommer.«
Lisbeth beäugte ihn misstrauisch.
»Ich bin dafür bezahlt worden«, sagte sie.
»Darum geht es gar nicht. Ich hatte vorgefasste Meinungen, als ich Sie zum ersten Mal sah. Dafür wollte ich Sie um Entschuldigung bitten.«
Mikael war überrascht. Dirch Frode war imstande, ein fünfundzwanzigjähriges gepierctes und tätowiertes Mädchen für etwas um Entschuldigung zu bitten, wofür er sich eigentlich gar nicht entschuldigen musste. Der Anwalt stieg in Mikaels Bewertungsskala auf einen Schlag ein paar Stufen nach oben. Lisbeth zuckte die Achseln.
Frode sah Mikael an.
»Was haben Sie da mit Ihrer Stirn gemacht?«
Sie setzten sich. Mikael fasste die Entwicklungen der letzten vierundzwanzig Stunden zusammen. Als er erzählte, dass man dreimal auf ihn geschossen hatte, sprang Frode erregt auf.
»Das ist doch vollkommener Irrsinn.« Er machte eine Pause und sah Mikael durchdringend an. »Es tut mir leid, aber das muss ein Ende haben. Ich kann nicht Ihr Leben aufs Spiel setzen. Ich muss mit Henrik sprechen, damit wir den Vertrag sofort auflösen.«
»Setzen Sie sich«, sagte Mikael.
»Sie begreifen nicht …«
»Ich begreife sehr wohl, dass Lisbeth und ich der Lösung so nahe gekommen sind, dass sich jemand massiv bedroht fühlt und panisch reagiert. Wir haben ein paar Fragen. Erstens: Wie viele Schlüssel gibt es zur Kapelle der Familie Vanger, und welche Personen haben sie?«
Frode überlegte kurz.
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich glaube, mehrere Familienmitglieder haben Zugang zur Kapelle. Ich weiß, dass Henrik einen Schlüssel hat und Isabella ab und zu dort sitzt, aber ich weiß nicht, ob sie einen eigenen Schlüssel hat oder ihn sich von Henrik leiht.«
»Okay. Sie sind immer noch im Vorstand des Vanger-Konzerns. Gibt es ein
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