Verborgen im Niemandsland
Abby und Andrew so oft wie möglich die Pflege ihres kleinen Sohnes, dem es wohl von allen im Treck am besten ging. Jedenfalls gedieh er prächtig und hatte Freude daran, in seinem kleinen Körbchen neben Abby und Emily zu liegen, während der Wagen über das unebene Gelände rumpelte. Emily übernahm die Pflege des kleinen Jonathan auch mit großem Ernst und wachsender Freude. Sie zeigte sich gelehrig und aufmerksam, und schnell hatte sie unter Abbys Anleitung den Dreh heraus, wie das Baby zu wickeln war und wie sie ihn in ihren Armen wiegen musste, wenn er mal unruhig wurde und schrie, etwa wenn er Bauchdrücken hatte. Und sie schöpfte auch sichtlich Trost aus dieser verantwortungsvollen Aufgabe, die Abby und Andrew ihr vertrauensvoll übertrugen.
Abby lobte sie so oft es ging. »Du machst das ganz wunderbar. Ich muss aufpassen, dass du mir nicht seine Liebe streitig machst. Er hängt ja jetzt schon fast mehr an dir als an uns«, sagte sie einmal scherzhaft. Auch versuchte sie immer wieder, Emilys Blick in die Zukunft zu lenken, in der das Glück einer großen Liebe und das Wunder eigener Kinder auf sie warteten, wie sie ihr versicherte. Und mit jedem Tag, der nach ihrem Aufbruch vom Muddy River verging, fühlte sich Emily in ihrer neuen Familie immer weniger als Fremde.
Die von Herzen kommende Zuneigung, die Abby, Andrew und auch Rosanna ihr entgegenbrachten, begann den schweren Knoten aus hoffnungslosem Schmerz und abgrundtiefer Verzweiflung zu lösen. Und wenn sie nachts auch noch oft genug weinte und des tröstenden Zuspruchs bedurfte, so gelang es ihr am Tage doch schon wieder zu lächeln und sich zu freuen, wenn Jonathan mit seiner winzigen Hand einen ihrer Finger umklammerte, an ihrer Lippe zog, ihre Nase tapsig erkundete oder beim Wickeln fröhlich gluckste und mit den Beinen strampelte, als wollte er testen, wie gut sie sich darauf verstand, ihm die saubere Windel umzubinden.
Auch der junge Stanley Watling, ein schlaksiger Bursche mit welligem rabenschwarzem Haar und den attraktiven Gesichtszügen seines Vaters, legte ihr gegenüber seine Schüchternheit ab und schenkte ihr seine Aufmerksamkeit. Abends, wenn die Kinder und einige Frauen Feuerholz zusammentrugen, fand er sich meist an ihrer Seite ein. Sie wechselten dabei nicht viele Worte miteinander, aber dass Emily seine Gesellschaft und Aufmerksamkeit alles andere als unangenehm war, ließ sich unschwer erkennen.
Auch fiel es Abby auf, dass bei der abendlichen Aufstellung der Wagenburg der Wagen der Watlings sich immer dann neben ihrem Gefährt einreihte, wenn der junge Stanley die Zügel in der Hand hielt. Einmal drängte er sogar das Fuhrwerk von Douglas Brown ab, der darauf jedoch nur mit einem leisen Auflachen reagierte. Offensichtlich war auch ihm nicht entgangen, dass Stanley seine ganz besonderen Beweggründe hatte, warum er den Watling-Wagen unbedingt an dieser und keiner anderen Stelle in den Kreis der Wagenburg einreihen wollte.
»Ich glaube, da haben sich zwei gefunden«, sagte Megan mit einem vergnügten Augenzwinkern zu Abby, als sie beobachteten, wie Stanley ihr wieder einmal das Feuerholz zur Kochstelle trug.
»Zu wünschen wäre es ihnen«, erwiderte Abby. »Und Stanley ist ein patenter junger Mann.«
»Ihr tut ja so, als wäre es schon bald an der Zeit, den Brautkranz zu binden!«, spottete Andrew. »Dabei ist Emily doch noch nicht einmal fünfzehn.«
»Und wie alt war ich, als wir uns das erste Mal an Bord der Kent begegnet sind?«, fragte Abby. »Gerade ein Jahr älter als Emily heute.«
Andrew lächelte.
»Hier gehen die Lebensuhren anders als in der alten Heimat«, sagte Megan. »Und auch da ist schon so manches Mädchen in Emilys Alter längst einem Mann versprochen.«
Andrew nickte und sagte dann mit einem Stoßseufzer: »Ich wünschte, das wäre unsere größte Sorge.«
Das wünschten sich auch Abby und ihre Freundin. Denn während Emily in jener Woche, in der sie die Sümpfe umfuhren und in das schier endlose Ödland gerieten, mit ihrer Trauer um den Vater zu leben lernte und ihre jugendliche Fröhlichkeit allmählich wieder zurückgewann, rang ein Großteil der erwachsenen Teilnehmer des Trecks immer stärker mit einem Gefühl der Enttäuschung und banger Ratlosigkeit. Was war, wenn es im Westen gar kein fruchtbares Land gab, wo sie sich niederlassen konnten? Hatten sie sich vielleicht für die völlig falsche Richtung entschieden? Und wie sollte es weitergehen, wenn ein Ödland auf das andere folgte?
Wie eine
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