Verborgen
Fabelwesen aus Meeren und Flüssen. Ligiea und Leukosia sind ihre ältesten überlieferten Namen. Es sind Vögel mit Frauengesichtern oder Frauen mit Fischschwänzen. Ihre Stimmen sind schön; so schön, dass es schmerzt. Ihre Gesänge sind voller Haken und Köder, und damit fangen sie Männer. Sie sind die fleischgewordene Angst der Männer vor Frauen. Ein Mann, der den Gesang der Sirenen vernimmt, vergisst sein Leben, vergisst sich selbst. Sein Schiff geht unter und er mit ihm, oder er steht lauschend da, gebannt, achtet nicht des Hungers, der ihn das Leben kostet.
Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen ; diese bezaubern alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret, dem wird zu Hause nimmer die Gattin und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen; denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen, die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine modernder Menschen umringt …
Wie wurden die Sirenen zu Sirenen? Das Fabelwesen zieht uns in seinen Bann. Das Signal warnt uns, fernzubleiben. Sie erscheinen als polare Gegensätze. Als deute das Wort, das einst Norden bedeutete, nun pfeilgerade nach Süden .
Was waren die Schakale für uns? Haben sie uns in ihren Bann gezogen oder uns gewarnt? Natürlich kann man ihnen keines von beiden unterstellen. Ihr Geheul galt nicht uns.
Die Stimmen lassen mich nicht los. Letzte Nacht weckten mich die Sirenen, und ich glaubte Geister zu hören, die Schakale haben ganz so geklungen wie sie. Als ich mich hinsetzte, um dies hier zu schreiben, wurde mir klar, dass ich wieder auf sie lauschte. Ihre Stimmen stecken in meinem Kopf fest wie Haken. Ich bin verfangen in Erinnerungen.
Welche Art von Sirenen waren die Schakale? Ich glaube, sie waren beides: Warnung und Lockung.
Bald ist Ostern.
Themeus kommt mit Geschenken für Eleschen an. Anfangs war er zu schüchtern, um sie ihr direkt zu geben. Als er es tut, wird er puterrot. Elias lacht, Max guckt wütend und findet es peinlich, glaube ich. Themeus schleicht sich in der Mittagspause an sie an, als wäre sie ein Tier, das er nicht aufstören will (weil es sonst wegrennt oder beißt?), und legt ihr in Feigenblätter eingewickelte Eier hin, Klatschmagazine und wilde Honigwaben vom letzten Jahr, aufgebrochene schwarzgelbe Labyrinthe in alten Olivenkrügen.
Die Sonne hat ihr Haar ausgebleicht. Meine Spartanerblondine, sagt Eberhard zu ihr. Jason meint, Themeus sei nicht ihr einziger Verehrer. Von den Männern hier ist der halbe Ort in sie verliebt. Die Kadetten beten sie an. Die älteren drücken sich jeden Abend allein oder zu zweit auf dem Kathedralenplatz herum. An Ostern wird sie sich vor Geschenken nicht mehr retten können, sagt Jason.
Er hat mir etwas über sie erzählt. Sie kommt aus einer Amish-Familie, zu der sie nicht mehr zurückkann. Ihre Familie lässt sie nicht an einem Tisch mit ihnen essen. Sie ist weggegangen, weil sie Musik liebt. Musik ist ein Zeichen von Hoffart. Und Hoffart ist eine Todsünde. Mit neunzehn ist sie allein in eine Stadt namens Athens gezogen.
So hat Eleschen es Jason erzählt, aber Jason will es nicht glauben; er denkt, es muss etwas Deftigeres dahinter stecken als Musik. Also erzählt er die Geschichte mir, und wem soll ich glauben? Jason steckt voller Geschichten. Und gleich den Historikern lässt er nur niedrige Beweggründe gelten. Aber er hat es mir beim Wein erzählt, und Jason ist ehrlicher, wenn er betrunken ist. Nur dann erzählt er mir was. Und er ist der Einzige von uns, der mir überhaupt je was erzählt.
Sie spielen seltsame Spiele , hat Chrystos gesagt. Er hatte recht, aber das Spiel ist nicht der Knackpunkt. Sie spielen Spartaner, mit ihren Geheimnissen und ihren albernen Klauereien und Jagden. Wie Katzen, die das Töten üben. Wie Kinder, deren Spiele allen außer ihnen selbst grausam und seicht oder bedeutungslos erscheinen. Aber dieses Spiel ist… so etwas wie ein Witz, mit dem man sich um die Wahrheit herumdrückt. Eine Theatermaske. Es hängt noch mehr daran. Wieso hätte Eberhard sonst gelogen? Es ist nicht bloß ein Spiel.
Sie verstecken etwas. Arbeiten daran. Sie sind sich nicht in vielem gleich, nur darin. Wenn Furcht das Thema der spartanischen Götter ist, dann ist ihres die Verschwiegenheit. Und was will ich damit sagen? Dass sie etwas zu verbergen haben. Ich glaube, sie stellen mich auf die Probe. Ich glaube, sie haben irgendwas da oben versteckt, irgendwo in den Höhlen.
XIII
Die Höhle
Ein Ausflug!« Freitag, bei Eberhard. Ben
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