Verborgen
Maul.
Nehmt sie mit , hatte Eleschen an dem Abend gesagt, als es um Sylvia ging. Und Jason hatte das Gleiche über ihn gesagt, letzte Nacht auf dem Balkon. Sie hatten von ihm geredet wie von der Hündin – zwar nicht direkt vor ihm, aber das war auch schon der einzige Unterschied.
Er schauderte und spürte im nächsten Moment Natsukos warme Hand auf seinem Nacken.
»Was ist?«
»Nichts. Alles okay«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln wie zur Bekräftigung.
Und stimmte es etwa nicht? Ihm ging es bestens. Das Gespräch auf dem Balkon hatte nichts zu bedeuten gehabt, es steckte nichts dahinter. Nur ganz leise regte sich Unbehagen in ihm, das altbekannte Gefühl, irgendwo in die Irre gegangen zu sein, den roten Faden in seinem Leben verloren zu haben, so wie er den Gedankengängen der anderen nicht mehr hatte folgen können. Odysseus, verirrt und verloren auf See. Fast war er schon daran gewöhnt. Doch jetzt gab es andere, frischere Gefühle. Die Begeisterung für das Land rings um ihn her. Die Freude, Freunde gefunden zu haben, mit lieb gewonnenen Menschen zusammen zu sein. Die Freiheit, die in ihm aufwallte, als sie gemeinsam Richtung Meer fuhren. Sie hatten ihn mitfahren lassen. Das war genug. Er war zufrieden.
Woher es wohl kam, dieses neue Gefühl von Freiheit? Irgendetwas hatte ihn aus seinem Griff entlassen. Sein altes Leben? Die Stadt mit ihrem Verkehrschaos, die hinter ihnen zurückblieb? Nein, weniger das eine oder das andere als vielmehr Lakonien. Einen Monat lang saß er nun schon in den Bergen, hatte gar nicht mehr gespürt, was dort auf ihn drückte.
»Sind wir nicht bald da?«, fragte Jason, und Sylvia wurde winselnd wach, als wolle sie seiner Beschwerde beipflichten, und just in dem Moment tauchte ein Straßenschild auf und versicherte ihnen, ja, sie waren so gut wie da.
Er holte Eberhard ein, als Pylos in Sicht kam. Der Volvo blieb einen Moment auf gleicher Höhe – kurz waren Max und Eleschen zu sehen, die sich auf dem Rücksitz anfauchten wie Katzen – und übernahm dann wieder die Führung, zügig am entgegenkommenden Verkehr vorbei, eine Hand reckte sich träge aus dem Fahrerfenster und bedeutete Ben hoheitsvoll zu folgen. Der Ort war ein Amphitheater aus Terrakottadächern und weiß getünchten Mauern, die sich an die Hügel klammerten; sie ließen ihn links liegen und fuhren auf der höher gelegenen Küstenstraße weiter nach Norden.
»Wohin jetzt? Natsuko?«
»Ich frage nach, warte.«
Sie wählte eine eingespeicherte Nummer und sprach dann sehr förmlich ins Telefon.
»Er sagt, es gibt da einen geheimen Strand.«
»Sollten wir uns nicht erst mal Zimmer suchen?«, fragte er. Jason gähnte und streckte sich; sein Sitz war bis zum Anschlag nach hinten geschoben, seine Füße lagen überkreuz auf dem Armaturenbrett.
»Nur keine Hektik, okay? Wär doch schade um den Tag. In der Jahreszeit reißen die sich hier um uns.«
Jetzt lag das Meer neben ihnen, im Hafen dunkel wie Anthrazit, in den Untiefen leuchtend hell wie Buntglas. Eine Insel schirmte die Bucht vom offenen Meer ab, ein Drachenschwanz aus buckeligen Wirbelknochen.
»Eberhard sagt, die Insel heißt Sphakteria. Er lässt fragen, ob irgendwer Lust hätte, morgen ein Boot zu mieten.«
»Weder morgen noch bis an mein seliges Ende. Was hat er denn? Sag ihm, hier gibt’s nichts, was ich mir ansehen will. Ich will bloß am Strand eine gute Figur machen und nicht schon wieder in Geschichte rumwühlen …«
Die Insel erstreckte sich immer noch parallel zur Straße. Er sah zu ihr hin, während Jason weiterbrummelte. Über den Namen konnte er einen Bezug herstellen, ihr zerklüftetes Antlitz nahm Gestalt an wie das Gesicht eines alten Freundes in der Menge. Der erste Ort, an dem die Spartaner sich je geschlagen geben mussten, nachdem ihre Feinde den Waldbestand der Insel niedergebrannt hatten und ihre Hopliten sich, ausgehungert, von allen Seiten belagert sahen. Söldner der Athener schlichen sich entlang der Höhen an, Steinschleudergeschosse sirrten durch den Rauch wie in einer Neuauflage der Geschichte von David und Goliath.
»Hier sind Drachen«, sagte er mehr zu sich selbst, doch Jason nickte, sein Blick ruhte ebenfalls auf der Insel, als empfinde er das Gleiche, einen Anhauch von uralter Geschichte, die fast schon ins Reich der Mythen übergegangen war.
Pylos glich Sparta insofern, als auch hier eine legendäre Vergangenheit die Bedeutungslosigkeit der Neuzeit überschattete. Die sandige Pylos, die heilige Pylos , hatte
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