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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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ohne Ton und in Zeitlupe. Zum Schluss träumte er, dass er allein erwachte und Stanton bei ihm am Bett stand, mit dem Kopf eines Schakals und den Augen einer alten Gottheit, und ihm die Hände entgegenstreckte, um ihn durch die Unterwelt zu geleiten.
    Bellende Hunde draußen in den Hinterhöfen weckten ihn. Er stand so leise wie möglich auf, um Natsuko nicht zu stören.
    Eben wollte er das Fenster zumachen, da hörte er ein Geräusch von weiter weg, höher als das der Hofhunde, in schrillem Falsett. Erst versuchte er sich einzureden, es sei eine Sirene, ein Rettungswagen irgendwo weit außerhalb, unterwegs zu einem Tatort oder Unfall oder auf dem Rückweg.
    Doch wider Willen erkannte er bereits die Stimme des Schakalweibchens. Die ferne Einsamkeit, den Grimm. Wie ein rauer Strick zog er sich durch das mattere Bellen und Zwitschern der Tiere im Ort.
    »Ist sie das?«, fragte Natsuko schläfrig im Dunkeln hinter ihm, und er nickte, weiter lauschend. »Wie weit ist sie weg?«
    »Ziemlich weit«, sagte er, schloss das Fenster und legte den Riegel vor.
    Wenn er sie küsste, wurde sie manchmal völlig still. Reglos, wie ein Tier. Als ob sie auf etwas wartete. Er bildete sich nicht ein, dass er es sei.
    Den Sex mit ihr fand er ebenfalls verwirrend. Er sah ihr ins Gesicht – ihr Kopf nach hinten gereckt, ihre Schlüsselbeine wie Flügel, sah die Wonne, die er ihr bereitete, und doch kam es ihm nicht vor, als ob sie ihm ganz und gar gehörte. Er besaß sie und doch wieder nicht. Manchmal, danach, wenn er allein war, dachte er daran und wusste, dass ihn dies eines Tages in blinde Wut versetzen würde.
    Sie saß neben ihm im Bett, ihr Haar fiel glatt bis über die Brüste hinab, und aß Joghurt mit Honig aus dem Becher.
    »Woran denkst du?«, fragte er; sie hielt inne und dachte nach, sah dann zu ihm hinunter, die Augen im Dunkeln geweitet.
    »Ich denke an nichts.«
     
Donnerstag lief es, wenn schon nicht bei ihm, so doch bei den anderen gut.
    Jason hatte zu seiner alten Form zurückgefunden und erzählte jedem, der es hören wollte, von dem Sommer, in dem er in Astrachan gearbeitet und sieben Skelette ausgegraben hatte, alle in verrottete Zobelpelze gehüllt und eines mit einer goldenen Taschenuhr, so rund und dick wie ein halber Apfel. Bei der mittäglichen Grabungspredigt sprudelte Eleschen förmlich los: Max hatte im Schädelraum einen guten halben Meter unterhalb der Fundstelle von Laco zwei Urnen zutage gefördert und Eleschen darin Statuetten von Apollon und Artemis gefunden, die die Zwillingsgottheiten in ihrer Eigenschaft als Herrscher über Krankheiten darstellten, plus Überreste offenbar eindeutig medizinischen Zwecken dienender Substanzen. Honig, Opium, gemahlene Alpenveilchenwurzel und pulverisiertes Zinnober, das quecksilberhaltige rote Sulfid.
    Selbst Max wurde munter, ließ ausnahmsweise die Arbeit Arbeit sein und setzte sich mit Themeus und Elias zu einem kleinen Plausch unter den Dachvorsprung der Elias-Kapelle; die Sonne beleuchtete sein pockennarbiges Gesicht, das sich selten, aber doch zum Lächeln eines steinernen Buddhas verzog.
    Trotz des guten Wetters machten sie früh Schluss. Missy stellte für den Unabhängigkeitstag ein paar Stunden Freizeit in Aussicht und aalte sich in der kurzen Beifallskundgebung. Mit heruntergekurbelten Fenstern rauschten sie talwärts; Eberhard ließ sich überreden, eine CD von Jason einzulegen – der beste Autofahrer-Mix (laut Jason) von Sparta bis Berlin –, und Eleschen sang abschnittweise mit. Sie hatte eine schöne, kehlige Stimme. Ihr Arm ruhte auf der warmen Flanke des Wagens, die Finger im Fahrtwind gespreizt.
    Als sie an den ersten Nebengebäuden und Kleingärten von Afision vorbeifuhren, hörte sie auf zu singen und setzte sich gerade hin.
    »Oh«, sagte sie mit plötzlich ganz kleiner Stimme, »seht mal da.« Sie taten es, und Eberhard verfiel in Schneckentempo, das schwungvolle Fahrgefühl war verflogen.
    An der Biegung der Dorfstraße stand ein Pick-up mit getönten Scheiben. Jemand hatte die Reifen abgespritzt. Seitlich klebte noch Dreck an der Ladefläche. Die Fahrertür war offen, auf dem Gitterrost der Trittstufe stand ein Werkzeugkasten. Der linke Vorderreifen war abmontiert, die nasse Radnabe ein glänzender Schild, das Fahrgestell auf Betonklötzen aufgebockt.
    Vom rückwärtigen Teil der Kabine hing ein langer grauer Fetzen herab. Er schien schwer zu sein; zunächst dachten sie, der Schlauch hätte ihn bei einem ungeschickten Schwenk durchnässt.

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