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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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wirkte ihr Gesicht weiß vor Elend. Sie hob die Hand und war verschwunden.
    Er brauchte mehr Luft. Er zog den Schlüssel ab, öffnete die Tür und stieg aus. Natsukos Handy war schon glitschig vom Schweiß in seiner Hand.
    Er wartete. Er hörte das Plätschern von Brunnen, ein leiser, gleichmäßiger Hintergrund für die schrillen, disharmonischen Klänge auf dem Platz. Unter den Bäumen hatten die geschniegelten jungen Männer eine Gruppe von Freunden gefunden – oder von Leuten, die für diesen Abend ihre Freunde sein sollten. Sie tanzten im Licht einer Laterne mit vier Lampen. Im Zwielicht verwandelten sie sich in groteske Bacchanten.
    Er lehnte sich mit dem Rücken an das Auto. Am Straßenrand verkauften mehrere schwarze Männer auf weißen Tüchern ausgelegte Handtaschen. Ihre Mienen waren ausdruckslos. Ein Polizeiauto fuhr vorbei, langsam wie ein Freier auf dem Straßenstrich. Ein Mann und eine Frau in Unisex-Hemden versuchten, gleichzeitig in ein öffentliches Telefon zu sprechen, umringt von kleinen Kindern, die müde auf Koffern hockten. Eines von ihnen, ein Mädchen, nickte ein, die Hand gekrümmt im Haar.
    Wie Ness, dachte er. Wie meine Tochter; aber der Gedanke kam ihm unehrlich vor; oder unverdient. Er konnte sich ihr Gesicht nicht mehr vorstellen. Es war, als hätte er dieser Welt den Rücken gekehrt, sie – mit ihren besten und ihren schlechtesten Eigenschaften – gegen den Ort eingetauscht, an dem er sich jetzt befand.
    Er checkte das Handy. Keine Nachrichten. Er machte sich allmählich Sorgen, dass er den Anruf verpasst hatte. Er sah die Uhrzeit, aber sie bedeutete ihm nichts. Er wusste nicht, wie lange Natsuko schon fort war, nur, dass es ihm schon zu lange vorkam.
    Sie war das Einzige, was ihm geblieben war, das wurde ihm klar. Er hatte auf mehr gehofft, auf die Liebe der anderen, aber wenigstens hatte er Natsuko noch. Das war doch etwas. Vielleicht würde es genug sein. Sie konnten nicht mehr nach Hause zurück, aber sie konnten neu anfangen, wie sie gesagt hatte. Damit konnte er leben. Er konnte trotzdem noch glücklich werden, wenn sie glücklich mit ihm wäre…
    Wo war sie? Er schaute wieder nach der Zeit. Es irritierte ihn, dass sie immer noch weg war. Er merkte, dass seine Hände zitterten. Nagende Stimmen meldeten sich, seine eigene, die von Natsuko und die der anderen, sie vermengten sich in seiner Erinnerung, als kämen sie alle aus ein und demselben Mund.
    Du wirst ohne mich wegfahren.
    Das wäre besser.
    Wie besser?
    Besser für dich. Wir müssen die Nachricht überbringen.
    Hab ich was falsch gemacht?
    Das tut jeder. Das hast du gesagt. Was willst du?
    Einer von euch sein.
    Dann wirst du es sein. Du gehörst zu uns, Ben. Jetzt bist du einer von uns.
    Eine Art Übelkeit oder Lähmung breitete sich in seinen Gliedern aus. Mühsam drehte er sich um und schaute in das Auto. Er sah darin nur die dunkle Masse der Gepäckstücke.
    Er setzte sich wieder ins Auto. Ein Laster fuhr vorbei, aus dem Gelächter drang. Anscheinend drehte er jetzt durch, er hatte schon im Wachen Albträume. Natsuko würde ihn nicht verlassen. Sie würden zusammen wegfahren; das hatte sie gesagt. Sie hatte es gesagt. Und eine Nachricht war schließlich nur eine Nachricht.
    Um sich zu beruhigen, stellte er sie sich vor. Eine Liste der Dinge, die er an Natsuko liebte; genauso eine hatte er einmal von Emine aufgestellt. Ihre leicht unregelmäßigen Schneidezähne. Die Pockennarbe an ihrer Schläfe, dicht vor dem Ohr: Sie war ihm nur aufgefallen, weil ihre Haut ansonsten so makellos war. Ihr morgendliches Schwimmtraining. Das rasche Luftholen, das er manchmal gehört hatte, wenn sie zwischen zwei metronomisch zurückgelegten Bahnen wendete. Ihre mühelose, unerschöpfliche Kraft.
    Vor dem Hotel rief eine Frau etwas, und er schaute hin, aber es war nur eine Touristin, eine Japanerin, die einem Fremden mit einer Kamera etwas durch Gesten verdeutlichen wollte.
    Das Polizeiauto fuhr erneut vorbei, als das Handy in seiner Hand klingelte.
    »Hallo?«
    »Ich bin’s.«
    Sie flüsterte, ihre Samtstimme durch die Erregung aufgeraut. Er hörte das Rauschen eines Brunnens. Musik, ganz in der Nähe. Das Flattern vieler Schwingen. Er schaute nach oben. Vögel kreisten über den Bäumen.
    »Alles in Ordnung bei dir?«
    »Ja. Du kannst die Tasche jetzt bringen.«
    »Welche denn?«
    »Die blaue.«
    »Die Sporttasche?«
    »Ja.«
    »Wo bist du?«
    »In der Mitte vom Platz. An einem Brunnen. Hier sitzt ein Mann, der Gitarre spielt. Er

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