Verborgen
. Keiner hat mir gesagt …«
»Ich hab’s verdient. Genau wie wir alle.«
Ihre Augen richteten sich seitwärts auf ihn, dunkel und animalisch. Er schlug die Hände vors Gesicht. »Das meine ich nicht. Ich meine nicht dich. Hör mir zu …«
»Psst.«
Sie tastete nach ihm, vorsichtig. Ihre Hand lag auf seinem Nacken, in seinen Haaren, wie die von Jason, und er schauderte bei der Berührung.
»Jetzt ist alles gut.«
»Wirklich?«
»Ja. Wir fahren weg. Wir fahren jetzt zusammen weg.«
Sie nahm seine Hand in ihre, hielt sie fest. Sie waren schon fast an den Bergen. Die Straße war immer noch leer, gespenstisch wie eine englische Autobahn am Heiligen Abend. Ein einzelnes Auto näherte sich ihnen langsam von hinten, und er beobachtete es, bis es überholte, weiß und anonym. Auf dem Rücksitz stapelte sich Natsukos Gepäck – ein Koffer, eine himmelblaue Sporttasche und eine HellaSpar-Plastiktüte, vollgestopft mit T-Shirts, Zahnbürste, Haarbürste und Jeans.
Er schaute Natsuko an. Sie weinte nicht mehr, aber ihre Miene war immer noch aufgewühlt. Ihr Blick tanzte nervös über die Straße vor ihnen. Sie war so still, als hielte sie den Atem an. Als er leise ihren Namen sagte, zuckte sie zusammen.
»Was?«
»Wo fahren wir hin?«
»Wohin möchtest du?«
»Ich weiß nicht, hab nicht drüber nachgedacht. Einfach … irgendwo anders hin.«
»Nach Athen.«
»Okay.«
»Dann können wir zusammen wohin fliegen.«
»Okay.«
Sie redeten schnell und so leise, dass es ihm vorkam, als seien sie ein einziger, laut denkender Verstand.
»Allerdings ist es ziemlich weit.«
»Aber nicht heute.«
»Nein, heute wird es nicht so lange dauern. Heute fährt niemand irgendwohin, oder?«
»Alle sind dort, wo sie sein möchten.«
»Bis auf uns«, sagte er, und sie nickte.
»Aber wenigstens bewegen wir uns noch.«
Sie ließen die Ebene hinter sich. Die Berge ragten vor ihnen auf wie große Tore. Das Flirren der Baumschatten. Ziegenglöckchen. Der Geruch von Thymian. Verschneite Gipfel, die in den Wolken schwebten.
Die Straße wie ein geisterhaftes Band. Tripolis in der Sonne schimmernd. Eine Kavalkade von Kindern, die auf Kindern ritten, die Feuerwerkskörper warfen. Luftblasen von Musik, durch die sie schwebten, als wären auch sie Geister.
Der Geruch von Fleisch, der ihn in jedem Ort aus tiefen Schlafgefilden holte. Nachmittagslicht auf Natsukos Gesicht. Sonne, die ihre Wangen durch die Platanen auf Dorfplätzen tüpfelte. Die Schatten ihrer Wimpern.
»Du siehst aus wie ein in Erfüllung gegangener Traum.«
»Bist du wach?«
»Ich denke schon.«
»Dann kann ich kein Traum sein.«
Korinth, der Kanal, der sich unter ihnen auftat wie die Falltür eines Henkers. Lammfleisch, unter Markisen röstend, vor einer Kapelle in den Olivenhainen. Judas, zu schwarzen Klumpen und Knoten verbrannt an einem schwarzen Galgen neben der Straße.
»Eb hat ihn aus der Höhle geholt. Warum? Er hätte ihn in der Höhle erschießen können.«
»Da wäre er schwer rauszuholen gewesen.«
»Warum müsste man ihn rausholen?«
»Ich weiß nicht.«
»Wenigstens können wir es jemandem sagen, in Athen. Wir können alles sagen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Sie sind immer noch unsere Freunde.«
»Meine Freunde waren sie nie. Sie werden sich denken können, dass wir das vorhaben. Sie werden uns aufhalten wollen. Was, wenn sie uns verfolgen?«
Attika, das griechische Kernland, durch Fabriken verunstaltet. Die Berge und das Meer. Die blauen Schlachtfelder von Salamis. Und dann Athen vor ihnen, der Parthenon, der sich in der Abendsonne blutrot färbte.
Sie fuhren schweigend durch die Straßen. Das Auto stank nach ihrer Angst und ihrer Flucht.
Die Stadt war unnatürlich ruhig, durch Ostern entvölkert. Erst am Syntagma-Platz waren Menschen zu sehen, die Hotelcafés und die Straßen unter den Bäumen waren nach wie vor voller Touristen und junger Leute, über ihnen die viereckige Fassade des Parlamentsgebäudes, der Platz selbst von lauter Musik erfüllt und strahlend hell von grellen Lichtquellen jeder Art.
Sie hielten vor dem Hotel Grande Bretagne mit seinen Reihen beleuchteter, palastartig hoher Fenster. Unter grünen Markisen dinierten gut gekleidete Leute, Kellner liefen zwischen den Tischen hin und her.
»Warum hältst du an?«
Sie strich sich die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Obwohl sie stundenlang gefahren war, hatte sich ihre Miene nicht verändert – sie verriet nach wie vor dieselbe Nervosität.
»Ben
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