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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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einem der erleuchteten Fenster des Gebäudes eine Gestalt, die hin und her lief. Er beobachtete, wie sie kam und ging und wieder kam. Erst als sie sich nicht mehr bewegte, erkannte er die Tracht einer Krankenschwester. Einen Moment lang stand sie im Profil da, auf diese Entfernung scheinbar ganz ruhig. Er konnte nicht sehen, welchem Martyrium oder welcher Aufgabe sie sich gerade widmete. Sie hielt den Kopf gesenkt. Barmherzig, wie auf einer Ikone.
     
Er wartete immer auf der Hoteltreppe. Um halb sieben holte ihn Chrystos ab, jeden Tag, wie er es versprochen hatte, immer pünktlich, immer nur mit seinem Bruder Giorgios und immer nur mit einem Nicken auf Bens Dankeschön. Der Transporter wäre groß genug für alle gewesen, aber so lief das nicht. Die Ausländer und die anderen Einheimischen fuhren getrennt, zusammen oder allein, einer Formel folgend, die Ben nicht durchschaute.
    Missy war jeden Tag als Erste da, stellte den SUV achtlos unter den Zypressen ab und schlug das Lager auf, in ihrer Gore-Tex-Kapuzenjacke. Max kam in Eberhards silbernem Volvo 144 Delux, Jason und Eleschen später in Natsukos Fließheck-Auto, und Elias und Themeus als Letzte zu Fuß oder zu zweit auf einem Motorroller. Manchmal nahm Chrystos unterwegs andere Leute mit, einen Onkel, einen verschwägerten Teenager, der in dem Dorf Afision ausstieg, einen älteren Cousin mit einer antiquierten Schrotflinte und falschen Zähnen desselben Jahrgangs, und einmal zusammen mit dem Onkel eine uralte Person, deren Akzent für Ben fast unverständlich war, eine winzige Frau mit geöltem Haar, die während der ganzen Fahrt mit ihrer Krächzstimme an Giorgios herumnörgelte, ihm einen Vorwurf nach dem anderen machte wegen irgendeiner nicht näher bezeichneten uralten Geschichte; sie hörte gar nicht mehr auf, obwohl Giorgios nichts sagte und der Onkel sie mit ernsten Vorhaltungen zum Schweigen bringen wollte, und starrte sie alle mit ihren unerbittlichen vogelschwarzen Augen an.
    Mit der Zeit konnte er Chrystos und den vorsichtigen Giorgios gut leiden. Chrystos besaß eine Würde, die bei seinem Bruder abweisend wirkte. Ihr Leben im Freien und ihre Zurückhaltung ließ beide alt erscheinen; allerdings waren sie beide auch tatsächlich nicht mehr jung. Chrystos konnte etwas Englisch von seiner gelegentlichen Mitarbeit bei anderen Ausgrabungen und aus seiner Zeit als Matrose bei der Handelsmarine und hatte in seiner Brieftasche Fotos von Newcastle in England und Newcastle in Australien, zerknitterte Schnappschüsse von alten Sonnenuntergängen und Freunden. Aber er war ein stiller Mann, und Giorgios war noch stiller und sprach immer sachlich und präzise.
    Wenn sie auf der Fahrt hinauf zur Ausgrabungsstätte überhaupt redeten, dann nur einsilbig, mit gedämpfter Stimme, als wäre es eine Sünde, im Dunkeln zu sprechen.
    »Haben Sie gut geschlafen?«
    »Ja, danke. Und auch fürs Mitnehmen.«
    Ein Nicken. Chrystos’ Augen vermaßen noch immer die Straße.
    »Sie reden nie mit den anderen?«
    Die Brücke vor der Stadt, die Abzweigung nach Afision und dann: »Die bleiben für sich.«
    Ein Geräusch von Giorgios auf dem Rücksitz. »Die geben sich mit Leuten wie uns nicht ab.«
    »Uns?«
    Darauf überhaupt keine Antwort. Er versuchte es noch einmal. »Und Elias und Themeus?«
    Chrystos räusperte sich. »Die sind wieder anders.«
    »Ja?«
    Afision hinter ihnen. Der Bildstock unter den Kiefern am Straßenrand. Claymore und Kleenex. Vor ihnen die Abzweigung.
    »Die wohnen außerhalb der Stadt. In ihrem eigenen Haus. Von da aus haben sie es zu Fuß nicht so weit. Sie kümmern sich lieber nur um ihren eigenen Kram.«
    »Am Fluss«, sagte Giorgios. »Die wohnen immer an den Flüssen. Solche Leute.«
    »Was für Leute?«
    »Die trauen den Leitungen nicht. Die trinken nicht gern aus der Leitung.«
    »Athigani.«
    »Athigani?«
    »Yifti« , sagte Giorgios, und Ben verstand. Eine erste kleine Gleichung, die aufging. Yifti. Gypsies. Zigeuner.
     
In der ersten Woche arbeitete er jeden Tag mit den Brüdern. Die anderen waren nie weit weg – der Schädelraum, Max’ hochgeschätzte Domäne, lag gleich über der Schulter des Hügels –, aber die Gruben hielten sie während der Arbeit voneinander getrennt oder leisteten ihrer Trennung jedenfalls Vorschub. In der Mittagspause versammelte Missy sie um sich, um die Funde zu besprechen und vorauszuplanen, doch danach zerstreuten sie sich wieder: Eberhard verdrückte sich, um allein zu essen, oder ging manchmal mit Max und

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