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Verborgen

Verborgen

Titel: Verborgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Hill
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Hand auf die Tische und pfiffen, wenn sie noch Wein wollten, aus der Stereoanlage dröhnte Musik, und im Fernseher liefen Bombenangriffe und Wahlveranstaltungen.
    Als das Essen kam, war er hungrig wie ein Wolf. Er ließ Missys Geplauder über sich ergehen, das Essen und das Reden waren rau und fremd für ihn, und er war ohnehin die meiste Zeit mit den Gedanken woanders. Die antike Stadt, in die er sich als Kind verliebt hatte. Die Straßen unter den Straßen unter seinen Füßen, begraben wie die alte Schrift auf einem Palimpsest.
    Im Fernsehen rannten Menschen auf etwas zu, was entweder Leichen oder Bündel von Kleidern sein konnten. Drei Männer in einer Reihe standen vor einem ausgebrannten Auto, als ob es sich dabei ebenfalls um eine Leiche handelte; trotzdem redete Missy neben ihm immer noch weiter, das Gesicht gerötet, lachend, Lügengeschichten erzählend. Das trockene Wüstenlicht von Abu Simbel, die Felsengräber von Petra. Die Majestät von Ephesos, die Schächte von Troja, die flüsternden Bogengänge von Ebla und Ur. Und der Wein so scharlachrot wie Cochenille, das Lamm mit Lorbeer gebacken, das Schweinefleisch mit Wacholder gebraten.
    Er schlief gut in dieser Nacht. Er erinnerte sich nicht daran, geträumt zu haben. Erst kurz vor Tagesanbruch, als er aufwachte, lag er im Dunkeln und dachte an Metamorphosis. Die Kakophonie in dem Grillrestaurant, die Wecker aus Metall und der Mischmasch der Sprachen. Dann Eberhards Stimme, kühl und sicher, die er immer noch im Ohr hatte, als er sich wusch und anzog und auf die dunkle Straße hinausging.
    Tut mir leid, aber Lakedaimonien nennt es so gut wie niemand mehr. Nicht einmal wir.
    Wir?
    Diejenigen von uns, die hier arbeiten.
    Seine Hände auf dem Tisch, die Finger verschränkt, beschützend.
     
Morgens wusch er sich immer rasch, stellte dann den Wasserkessel auf, nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Fenster. Er war noch vor sechs zur Stelle, aber dann war Sparta schon wach und die Felder und Fabriken warteten auf niemanden mehr.
    Er trank seinen Tee und sah zu, wie die Stadt zum Leben erwachte. Irgendwo hinter ihm ging die Sonne auf. Sie kroch den Taygetos herab. Manchmal hatte das erste Licht nur die Farbe des Schnees und des Gesteins der Berge. An anderen Tagen war es rot wie Blut.
    Kurz nach sechs schlich der Junge mit den angeklatschten Haaren in den Hof hinaus, rollte die Abdeckung auf dem Pool zurück und lungerte dann nervös eine Zigarette rauchend hinter den aufgestapelten Sonnenliegen herum, bis Natsuko auftauchte.
    Wenn er sie – früher als Ben – sah, begann der Junge immer krampfhaft zu zucken, dann machte er sich an seine Arbeit, wischte Stühle ab und wischte den Fliesenboden auf, während sie schwamm. Von Bens Fenster aus erschien sie perspektivisch verkürzt, wenn sie aus dem Haus kam – im schwachen Hoflicht klein wie ein Kind –, und dann in die Länge gezogen, wenn sie tauchte und ihre Umrisse sich in den Wellen auflösten. Ihre kräftigen, präzisen Schwimmstöße hallten in dem schachtartigen Hof wider. Er und der Junge beobachteten sie beide. Weißes Handtuch, schwarzer Badeanzug, weiße Haut, schwarzes Haar. So viele Bahnen. Jedes Mal zählte er irgendwann nicht mehr weiter. Jeden Morgen schwamm sie immer noch, wenn er aufbrach.
    Zwei Mietshäuser ragten über den Pool auf. Nach und nach lernte er – ganz ähnlich wie zu Hause – die Fremden kennen, die darin wohnten. Die Arbeiter, die im ersten Morgengrauen aus der Konservenfabrik oder der Vulkanisieranstalt nach Hause trotteten, der Mann, der auf seinem Balkon Käfige mit Vögeln aufhängte, die alten Frauen, die Kraken auf der Wäscheleine trockneten, die Arbeiterinnen, die bei Tagesanbruch Kleider aufhängten, damit sie mittags trocken waren. Emine, das wusste er, hätte sie gemocht.
    Weiter weg stand ein großes, niedriges Gebäude – Hunderte von Fenstern in einer weitläufigen Betonwand. Es sah nicht aus wie ein Haus, in dem Menschen wohnten, aber es wirkte auch nicht wie eine Arbeitsstätte. Dieses Geheimnis wurde zu einem festen Bestandteil seines Morgens. Die ersten paar Tage war er so erschöpft, dass er gerade noch essen konnte, wenn er von der Grabung nach Hause kam, allein oder mit Missy, und dann dachte er nicht an das niedrige Gebäude, bis er morgens aufstand und es wieder sah. Immer gingen in einem Fenster die Lichter aus und in einem anderen an, lautlos und unerklärlich zielbewusst, wie Warnlichter an einer seltsamen Maschine.
    Am vierten Morgen sah er in

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