Verborgene Lust
verachtet.«
»Ja, aber wenn er das wirklich täte, würde er sie verlassen.«
Maria hat René nicht erzählt, warum sie mitten in der Nacht zurück nach Paris wollte, und sie fragt sich jetzt, ob er es erraten und Vivienne gesagt hat. Sie schämt sich zu sehr, um Vivienne zu erzählen, dass sie Felix und Mathilde zusammen in einem Bett gesehen hat. Sie hofft, dass ihre Freundin es nicht weiß.
Vivienne beugt sich auf ihrem Stuhl vor. »Du weißt nicht, was sie ihm angetan haben«, sagt sie und ergreift Marias Hand.
»Während des Kriegs?«
»Wir haben alle gedacht, Felix sei tot. Er ist in Lyon schwer gefoltert worden. Das hat vor ihm noch niemand überlebt.« Vivienne lässt ihre Hand los, ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Du weißt von meinem Marcel, nicht?«
Maria nickt. »Es tut mir leid«, flüstert sie.
»Nun, jetzt weißt du, warum ich Mathilde hasse. Ich möchte allerdings auch nicht, dass ihr etwas angetan wird.« Vivienne schlingt die Arme um ihre Taille und setzt sich zurück. »Ich bin anders. Ich könnte nicht tun, was sie getan hat. Ich habe Marcel geliebt«, weint sie und wischt sich die Tränen ab. »Mathilde hat mir das Gefühl gegeben, ihn im Stich gelassen zu haben. Dafür habe ich sie gehasst.«
»Das Problem ist nicht, wer sie ist oder dass er verheiratet ist, sondern dass er es mir nicht erzählt hat«, antwortet Maria. »Und letzte Nacht … habe ich … gesehen …«
Vivienne beugt sich erneut vor und legt ihren Finger auf Marias Lippen. »Ich weiß. Ich nehme an, deshalb bist du weggelaufen.« Sie seufzt. »Aber ich glaube trotzdem, dass Felix dich liebt. Das Leben hat sich verändert.« Vivienne bietet ihr eine Zigarette an.
»Wie meinst du das?«
»Der Krieg hat alles verspottet, woran wir vorher geglaubt haben: das Leben und die Liebe. Wir müssen uns von alten Moralvorstellungen verabschieden.«
»Du findest also, ich sollte seine Geliebte sein?«, fragt Maria, schockiert, dass Vivienne eine solche Idee akzeptieren würde.
»Das musst du wissen, Liebes«, sagt sie sanft. »Aber ich würde dich dafür nicht verurteilen. Die Liebe und die Leidenschaft zwischen Felix und dir sind zu selten, um sie leichtfertig aufzugeben, auch wenn es kompliziert ist.«
»Aber was, wenn wir ein Kind …?«, fragt Maria. Sie weiß, wie es ist, ohne Vater aufzuwachsen. Das möchte sie ihren eigenen Kindern nicht antun. Sie möchte nicht, dass man sie anders ansieht, weil sie unehelich sind.
Vivienne drückt ihre Zigarette aus. »Das würdest du schaffen. Das ist es wert.«
Maria denkt an Viviennes tote Töchter. Sie empfindet Mitgefühl mit ihrer Freundin. Wie kann sie so selbstsüchtig sein, von sich zu reden, nachdem Vivienne so viel durchgemacht hat?
»Es tut mir leid.« Sie legt eine Hand auf Viviennes Arm. »Wegen deiner Töchter.«
Vivienne sieht sie einen Augenblick an, und der tiefe Schmerz in ihren Augen raubt Maria den Atem.
»Ich dachte, ich könnte wieder in Paris leben«, erzählt Vivienne ruhig. »Ich meine, es ist die Stadt für Autoren, vor allem für Autor innen . Doch ich glaube, ich hätte gehen sollen, als Felix gegangen ist. Ich weiß nicht, warum er zurückgekommen ist.« Sie nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. »Maria, denk daran, dass diese ganze Tragödie nichts mit dir zu tun hat. Ganz im Gegenteil, du hast Licht und Hoffnung in unser Leben gebracht.«
Maria balanciert ihre Zigarette zwischen den zitternden Fingern. »Ich bin nur ein ganz normales Mädchen.«
»Und genau das macht dich so besonders«, erklärt die andere Frau und streicht ihr zärtlich über das Haar, während Tränen über ihre Wangen laufen.
»Wie hießen sie?«
Vivienne fragt nicht, wen sie meint. »Lucille und Tina.« Ihre Stimme bricht, und sie vergräbt das Gesicht in den Händen.
Maria nimmt Vivienne in die Arme.
Während die Mittagssonne auf Paris scheint, herrscht in Viviennes Wohnung Stille. Die beiden Frauen liegen sich in den Armen und weinen um all das, was sie verloren haben.
Später, nachdem sie ihre Tränen getrocknet und sich mit Kaffee ernüchtert haben, fragt Vivienne Maria, ob sie ausgehen möchte. Sie könnten einen Jazzclub besuchen und etwas Musik hören und ihre Sorgen ertränken, doch Maria lehnt ab. Sie will schlafen, um ihren Kummer zu verdrängen.
»Warum kommst du nicht mit mir nach Amerika?«, schlägt Vivienne vor, während sie sich mit Hilfe ihres Handspiegels die Lippen schminkt.
»Amerika?«
»Ja, ich ziehe nach New York. Man hat mir eine
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